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Holacracy

Die Auslagerung von Verantwortung

  • Stefan Kühl
  • Freitag, 21. Juli 2023
Verantwortung

Zur Funktion von Managementmoden

In ihrer Machart haben Managementmoden hohe Ähnlichkeiten mit Religionen (in diesem Sinne argumentierend Krell 1994, 276ff.; Furnham 2004, S. 4; Greatbatch und Clark 2005, 12ff.; Huczynski 2006, 206ff.; Alvesson 2013, 130ff.; Collins 2020, 135ff.). Es wird ein Weg versprochen, mit dem die Arbeit – und weitergehend das Leben – wieder einen Sinn haben kann. Es werden Prinzipien gepriesen, mit denen man in neue Bewusstseinsstufen vordingen könne. Es werden Katastrophen prophezeit, wenn man sich nicht den neuen Gedanken verschreibt. Versprochen wird nicht nur die Erlösung des Einzelnen, sondern der ganzen Welt.[1]

Die Religionsähnlichkeit von Managementmoden greifen Kritiker auf und bemängeln, dass man bei Anhängern von Managementkonzepten nicht selten Merkmale eines Kultes entdecken könnte. Die Anhänger eines Management­konzepts erklärten sich zu einer Gruppe von Auserwählten, die begriffen hätten, wie Organisationen heutzutage zu funktionieren haben. Die Anwendung eines Management­konzepts würde von den Anhängern als eine „spirituelle Praxis“ angesehen, von der möglichst viele andere überzeugt werden sollten (siehe für eine solche Kritik an der Holacracy Tincup 2014; Infinite Beta 2018).

Was bei dieser Kritik jedoch übersehen wird, dass die fast religiös aufgeladenen Managementkonzepte wichtige Funktionen in Organisationen erfüllen. Auch wenn die Machart moderner Managementmoden in fast schon überraschen­derweise denen von seit langem bekannten Religionen ähnelt und man sich angesichts der von ihren eigenen Konzepten beseelten Managern und Beratern fast zwangsläufig an die orthodoxen Verfechter einer Religion erinnert fühlt, können Managementmoden eine zentrale Rolle in Veränderungsprozessen von Organisationen spielen.

Managementmoden als Hilfe bei der Entscheidungs­findung

Organisationen stehen vor der Herausforderung, unter Bedingungen von hoher Unsicherheit Entscheidungen treffen zu müssen. Wenn allen klar ist, was die richtige Vorgehensweise ist, bräuchte man letztlich keine Entscheidung zu treffen, weil nur das sowieso auf der Hand liegende exekutiert werden müsste. Entscheidungen sind also immer Festlegungen in einer Situation, in der man nicht sicher sein kann, ob diese richtig ist. Deswegen ist jede Entscheidung, die in einer Organisation getroffen wird, zwangsläufig riskant, weil sich später herausstellen kann, dass eine andere Entscheidung doch besser gewesen wäre (siehe dazu grundlegend Luhmann 1993, 287ff.).

Letztlich könnten sich Organisationen bei der Entscheidungsfindung auf sich selbst verlassen. Das Problemverständnis in der Organisation ist meistens so präzise, dass das nötige Know-how zur Einschätzung von Entscheidungs­alternativen vorhanden ist. In den Organisationen ist das Wissen vorhanden, woher Verständigungsprobleme zwischen Abteilungen herrühren und wie diese bearbeitet werden können, welche Routinen nicht so funktionieren, wie sie funktionieren sollten und welche Personen auf den richtigen Stellen sitzen und welche nicht. Allein mit Blick auf das Wissen, wären also Organisation allein in der Lage, die Vor- und Nachteile von Entscheidungs­alternativen gegeneinander abzuwägen und auf der Basis eine Entscheidung zu treffen.

Das Problem ist jedoch, dass die Verantwortung für diese Entscheidung dann einzig und allein bei den Entscheider:innen innerhalb der Organisation liegt. Wenn sich abzeichnet, dass eine Entscheidung für die Organisation unter dem Strich als „falsch“ wahrgenommen werden muss, setzt häufig die Suche nach Schuldigen ein. Es werden Personen identifiziert, die die Entscheidung damals getroffen haben und deswegen für sie verantwortlich gemacht werden können (siehe dazu Luhmann 1964, 172ff.). Zwar könnte man argumentieren, dass „Entscheider“ in Organisationen deswegen gut bezahlt werden, weil sie unter Unsicherheit Entscheidungen treffen, aber es gibt trotzdem gute Gründe, Strategien zu entwickeln, die Verantwortung für eine Entscheidung zurück­zuweisen, wenn diese später als falsch angesehen wird.

Die Strategien zur Reduzierung von persönlich zurechenbarer Verantwortung sind vielfältig. Die großen Expertenberatungsfirmen werden in vielen Fällen nicht wegen der Qualität ihrer Beratungsleistung geholt, sondern weil man die Verantwortung für Entscheidungen auf sie auslagern kann. Die Einrichtung von kollektiven Entscheidungsorganen in Form von selbstorganisierten Teams reduziert die individuelle Verantwortung jedes einzelnen Teammitglieds. Die Einbindung möglichst vieler Personen durch partizipativ angelegte Verände­rungsprozesse erschwert es, allein für eine Entscheidung verantwortlich gemacht zu werden.

Angesichts der Risiken bei der Entscheidungsfindung spielen Management­moden eine wichtige Rolle. Manager:innen können Entscheidungen damit begründen, dass sich alle Organisationen im Moment an einem Trend orientieren. Man verweist beim Neuzuschnitt einer Organisation darauf, dass dies in den aktuell gehandelten Managementkonzepten als einzige Möglichkeit gesehen wird, mit den veränderten Anforderungen umzugehen. Man rechtfertigt seine eigene Vorgehensweise damit, dass man Strukturen derjenigen Organisa­tionen imitiert, die in der Managementpresse als besonders fortschrittlich diskutiert werden und deswegen für besonders erfolgreich gehalten werden. Kurz: Managementmoden dienen in so einer Situation als hilfreiche Sicherheits­surrogate. Sie reduzieren nicht nur die Notwendigkeit des Selberdenkens, sondern helfen auch die eigene Verantwortung für Entscheidungen zu reduzieren.

Das Buch zum Thema

Schattenorganisation: Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

Holacracy als fertiges Organisationskonzept

Der Charm aber auch das Problem vieler Managementmoden ist, dass sie aus einer geschickten Mischung aus Einfachheit und Mehrdeutigkeit bestehen (Clark und Salaman 1996, 85ff.; nach Kieser 1997, S. 58). Die Einfachheit der meisten Managementmoden weckt den Eindruck einer spontanen Plausibilität. Firmen, die ihre Mitarbeiter:innen als Unternehmer:innen im Unternehmen wirken lassen, erscheinen ansprechender als Firmen, die die Initiative der Mitarbeiter:innen in bürokratischen Verfahren erstickt. Ein Unternehmen, dass sich am Modell eines Zelts orientiert, das sich schnell versetzten lässt, wirkt attraktiver als Unternehmen, die sich am Modell des Palastes ausrichten. Organisationen, die sich netzwerkartig strukturieren, rufen mehr Sympathie hervor als Organisa­tionen, die zentralistisch organisiert sind (alle Beispiele bei Kieser 1996, 24f. und Kieser 1997, 58f.).

Aber gerade die plausible Einfachheit führt dazu, dass bei vielen Management­moden im Unklaren bleibt, wie sie genau umgesetzt werden sollen (Miller und Hartwick 2002, 26f.; Miller et al. 2004, S. 12). Zwar suggerieren die rezeptartige Darstellung der Vorgehensweise, die Beispiele von Vorreiter­organisationen und die Kapitel über die Implementierung eine unmittelbare Praktikabilität, lassen die Praktiker:innen aber häufig ratlos zurück (Micklethwait und Wooldrige 1996, S. 83).[2] Im Grunde, so die Feststellung von Alfred Kieser (1995, S. 63), sind Managementmoden „Sammlungen von relativ einfachen Prinzipien“. Sie geben Manager:innen „Leitbilder“ vor, „vereinfachen“ deren Weltsicht und stellen einzelne „Erfolgsfaktoren“ in den Vordergrund, liefern jedoch keine „exakten Methoden“. Es wird die Utopie einer auf Vertrauen und Bewusstheit basierenden Organisation, die sich in keiner Weise als Blaupause für die Strukturierung einer Organisation eignen (so Caddell 2016).

Weil die meisten Managementmoden sowohl einfach und klar sind als auch mehrdeutig und vage (Kieser 1996, S. 25), herrscht bei Entscheider:innen in Organisationen eine hohe Unsicherheit, wie sie die Managementmode umsetzen sollen. Zwar bieten eine Unzahl von Berater:innen ihre Dienste bei der Implemen­tierung einer Managementmode an, aber es bleibt die Unklarheit, welche Folgerungen für die Organisation genau gezogen werden müssen. Genau hier liegt die Besonderheit der Holacracy gegenüber vielen anderen Management­moden.

Im Gegensatz zu den meisten Managementkonzepten wird bei der Holacracy bis ins kleinste Detail ausbuchstabiert, wie eine Organisation zu funktionieren hat. Während Managementkonzepten wie lernender Organisation, agiler Organisation oder intelligenter Unternehmung unklar bleibt, was mit der Einführung dieser Konzepte sich in einer Organisation genau ändert, werden bei den holakra­tischen Organisationen ähnlich wie bei tayloristischen Konzepten und beim Harzburger Modell die Prinzipien bis ins Detail ausbuchstabiert.

Anders als bei vielen anderen Managementmoden, die lediglich den Effekt auf der Schauseite der Organisation produziert haben, greift die Holacracy tief in die Formalstruktur der Organisation ein. Die zu Beginn eines Reformprozesses unterzeichnete holakratische Verfassung führt zur Aufsplittung der Aufgaben in genau definierte Rollen, die Zusammenfassung dieser Rollen in Kreise und die Verbindung dieser Kreise über Lead Links und Rep Links. Spätestens auf die holakratische Verfassung aufsetzenden Softwaresysteme erzwingen zur Einrichtung und Spezifikation von Rollen die Übernahme der stark formalisierten holakratischen Interaktionsformate.

In der Holacracy wird der Paketcharakter einer Managementmode besonders deutlich (siehe zum Konzept der Paketförmigkeit Gill und Whittle 1992, S. 282). Bei Managementmoden werden die verschiedenen Managementwerkzeuge in einem Paket zusammengefasst und dann mit beeindruckenden Labeln wie „Total Quality Management“, „Lean Management“ oder „holakratischem Betriebs­system“ bedruckt (in dieser Logik Reitzig 2022, 179f.). Dem Management wird versprochen, dass sie das Paket nur auspacken müssten und sie dann unmittelbar von den Managementwerkzeugen profitieren könnten (dazu Huczynski 2006, S. 112).

Der Vorteil dieser Paketförmigkeit für das Management ist, dass ein Managementkonzept komplett eingekauft werden kann. Genauso wie man eine veraltete Software löschen und durch eine neue Standardsoftware ersetzen kann, könne man auch, so jedenfalls das Verkaufsversprechen, das alte Betriebssystem der Organisation löschen und durch eine holakratische System ersetzen. Wie bei einer Standardsoftware müsse man auch bei einem holakratischen System dabei die eine oder andere Anpassung vornehmen, aber im Groben weiß man, was man bekommt. Eine enorme Erleichterung bei der Entscheidungsfindung.

Der Nachteil der Paketförmigkeit besteht jedoch darin, dass man der Fertiglösung mehr oder minder ausgeliefert ist. Genauso wie man für die Schwachstellen einer neuen Standardsoftware mühsame „Workarounds“ entwickeln muss, muss man auch für die ungewollten Nebenfolgen eines neuen Betriebssystems Kompensationsmöglichkeiten finden. Aber es handelt sich immer um Notlösungen, mit denen die Probleme nur eingedämmt werden, aber nicht grundlegend gelöst werden können. Wenn die Schwierigkeiten zu groß sind, bleibt dann häufig nur, die Standardsoftware durch eine neue zu ersetzen oder sich von dem organisationalen Betriebssystem zu verabschieden.

[1] Siehe auch zur religiösen Aufladung der Theory U und den daraus resultierenden blinden Fleckchen Kühl 2020.
[2] Idealtypisch zu sehen am bisher größten Managementbestseller „In the Search of Excellence“; siehe Peters und Waterman 1982.

Literatur
Alvesson, Mats (2013): The Triumph of Emptiness. Consumption, Higher Education, and Work Organization. Oxford, New York: Oxford University Press.
Caddell, Bud (2016): The Fatal Gap Between Organizational Theory and Organizational Practice.
Clark, Timothy; Salaman, Graeme (1996): The Management Guru as Organizational Witchdoctor. In: Organization 3, S. 85–107.
Collins, David (2020): Management Gurus. A Research Overview. London, New York: Routledge.
Furnham, Adrian (2004): Management and Myths. London: Palgrave Macmillan UK.
Gill, John; Whittle, Sue (1992): Management by Panacea. Accounting for Transience. In: Journal of Management Studies 30, S. 281–295. DOI: 10.1111/j.1467-6486.1993.tb00305.x.
Greatbatch, David; Clark, Timothy (2005): Management Speak. Why We Listen to What Management Gurus Tell Us. Online-Ausg. London: Routledge.
Huczynski, Andrzej (2006): Management Gurus. What Makes Them and How to Become One. 2. Aufl. London: Routledge.
Infinite Beta (2018): How Holacracy Is Killing Businesses.
Kieser, Alfred (1995): Managementlehre und Taylorismus. In: Alfred Kieser (Hg.): Organisationstheorien. 2. Aufl. Stuttgart, Köln, Berlin: Kohlhammer, S. 57–90.
Kieser, Alfred (1996): Moden & Mythen des Organisierens. In: Die Betriebswirtschaft 56, S. 21–39.
Kieser, Alfred (1997): Rhetoric and Myth in Management Fashion. In: Organization 4, S. 49–74.
Krell, Gertraude (1994): Vergemeinschaftende Personalpolitik. Normative Personallehren, Werksgemeinschaft, NS Betriebsgemeinschaft, Betriebliche Partnerschaft, Japan, Unternehmenskultur. München, Mering: Rainer Hampp Verlag.
Kühl, Stefan (2020): The Blind Spots in Theory U: The Reconstruction of a (Change-) Management Fashion. In: Journal of Change Management 20 (4), S. 314–321. DOI: 10.1080/14697017.2020.1744883.
Luhmann, Niklas (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot.Luhmann, Niklas (1993): Die Paradoxie des Entscheidens. In: Verwaltungsarchiv 84, S. 287–310.
Luhmann, Niklas (1993): Die Paradoxie des Entscheidens. In: Verwaltungsarchiv 84, S. 287–310.
Micklethwait, John; Wooldrige, Adrian (1996): The Witch Doctors. Making Sense of the Management Gurus. London: William Heinemann.
Miller, Danny; Hartwick, Joh (2002): Spotting Management Fads. In: Harvard Business Review 80 (10), S. 26–27.
Miller, Danny; Hartwick, Jon; Le Breton-Miller, Isabelle (2004): How to Detect a Management Fad—and Distinguish it from a Classic. In: Business Horizons 47 (4), S. 7–16. DOI: 10.1016/S0007-6813(04)00043-6.
Peters, Thomas J.; Waterman, Robert H. (1982): In Search of Excellence. New York: Harper & Row.
Reitzig, Markus (2022): Get Better at Flatter. A Guide to Shaping and Leading Organizations with Less Hierarchy. Cham: Palgrave Macmillan.
Tincup, William (2014): The Six Problems with Holacray. Fistfuloftalent.com (… for dummies).

Autor

Prof. Dr. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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