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Holacracy

Das Denken in Reifegraden: Zum Konzept der Spiral­dynamik

  • Stefan Kühl
  • Freitag, 28. April 2023
Reifegrade

Neue Beratungsansätze führen häufig einen inhärenten Fortschrittsgedanken mit sich. Man geht davon aus, dass es verschiedene Entwicklungsstufen gibt, auf denen Organisationen sich befinden können. Dieses Denken hat eine wesentliche Schutzfunktion für Manager:innen, deren Legitimation durch neue Managementmoden bedroht wird.

Auf dem Weg zu revolutionären Management-Systemen arbeiten die meisten Managementmoden mit einem mehr oder minder simpel aufgebauten Fortschrittsmodell. Organisationen entwickeln sich in diesem Rahmen dann beispielsweise weg von einem durch einen alles bestimmenden Boss gekennzeichneten Modell des „Rudels“, über ein durch Regelhaftigkeit gekennzeichnetes Modell der „Armee“ oder ein vorrangig an Effizienz ausgerichtetes Modell der „Organisation“ hin zu einer durch eine Kombination aus klassischer Hierarchie und hoher Selbstständigkeit gekennzeichneten Konzeption der „Familie“, bis sie schließlich zum Inbegriff des aus selbst organisierenden Einheiten bestehenden „Netzwerkes“ werden (siehe Laloux 2015: 36 f. siehe auch Laloux 2014; siehe auch Kuhlmann/Horn 2020: 70 ff.).

Solche Modelle von sich permanent zum Besseren evolvierenden Organisationsformen lassen sich problemlos mit der Entwicklung von Führungsrollen kombinieren. Auf die Vorstellung des Big Boss mit strikter Hierarchie folge, so die Erzählung, die Idee der beidseitigen Leitung, in der die klassische Top-down-Führung mit geteilter Führung kombiniert werde. Nach der Ausbildung der geteilten Unternehmenslenkung komme dann das Prinzip der demokratischen Führung, nach dem Mitarbeiter:innen ihre Chefs selbst wählten, um letztlich in der durch absolute Gleichheit aller Mitglieder gekennzeichneten führerlosen Organisationen zu enden (so Bruch/Berger 2016).

Manchmal werden die Entwicklungsstufen zusätzlich mit Farben hinterlegt, um die Verortung noch einfacher zu gestalten. Auf eine durch impulsiven Führungsstil geprägte magentafarbene Organisation würde ein durch formale Führung dominiertes bernsteingelbes System folgen, welches durch ein leistungsorientiert geprägtes oranges Gefüge abgelöst werden würde. Auf dieses folge dann eine durch Partizipation gekennzeichnete grüne Organisation, die in der Endstufe in eine durch ganz neue Formen der Zusammenarbeit geprägte blau-grün schimmernde Unternehmung münden würde (besonders farbig bei Laloux 2014 oder Laloux 2015).

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Hinter dem Gedanken der Reifegrade von Organisationen – oder von Individuen, Familien, Freundesgruppen oder gleich ganzen Gesellschaften – steckt häufig das Konzept der Spiraldynamik. Dieses Konzept basiert auf einem sogenannten „integralen Ansatz“, in dem alles, was an wissenschaftlichen, philosophischen und religiösen Ansätzen existiert, zusammengefügt wird – Systemtheorie, Neurobiologie, Jungsche Archetypen, Hermeneutik, Hegelsche Dialektik, Zen-Buddhismus, Neoliberalismus, Poststrukturalismus, Neohinduismus, transpersonale Bewusstseinszustände und Neoplatonismus (siehe dazu Manson 2020). Ergebnis soll, so die Vorstellung der Anhänger des integralen Ansatzes, ein umfassendes Konzept, in dem aus allen existierenden Gedankengebäuden das herausgezogen wird, was brauchbar ist und sinnvoll erscheint (siehe dazu Wilber 2000; für eine Kritik siehe Meyerhoff 2010; siehe für die Umgang mit dieser Kritik Wilber 2006).

Wegen dieses Anspruchs bezeichnen überzeugte Holakraten ihre erste Begegnung mit dem integralen Ansatz dann auch als „kognitiven Orgasmus“. „Alles Wissen“, was man bisher angehäuft hätte, würde sich im „Kopf schlagartig in Form einer zusammenhängenden Gestalt“ kristallisieren (Wittrock 2020: v). Die persönliche Begegnung mit Ken Wilber, einem der Begründer des integralen Ansatzes, wird dann mit einer Begegnung mit Einstein oder Hegel verglichen – „nur cooler“ (Wittrock (2020: vi). Die Dimension dieses Erweckungserlebnisses wird erst voll verständlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Begegnungen mit Einstein oder mit Hegel – jedenfalls wenn man den Biographen glauben darf – auch schon ziemlich „cool“ gewesen sein müssen.[1]

Kritischen Beobachtern mag das Denken in Reifegraden, die Konzeption von Spiraldynamik und die Begeisterung für einen integralen Ansatz wie ein erneuter Aufguss esoterischen Denkens im Management erscheinen. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass die damit verbundenen Fortschrittssuggestionen für Managementmoden eine wichtige Funktion haben. Jede Managementmode droht ein Versagen des Managements zu signalisieren. Schließlich haben diese ja das in der Managementmode propagierte Prinzip noch nicht eingeführt und damit ihre Organisation einem Risiko ausgesetzt. Durch die Darstellung des Prinzips als nächste Stufe in einem Fortschrittsmodell werden die Manager:innen jedoch beruhigt, handelt es sich bei der Adaption der Managementmode doch lediglich um das Nehmen der nächsten Stufe in der Entwicklung einer Organisation zu etwas (noch) Besserem.

[1] Siehe zu den Begegnungen mit Einstein die Biographie von Fölsing (2013) und zu denen mit Hegel die von Kaube (2020).

Bruch, Heike/Stefan Berger (2016), Leadership wird noch wichtiger! Vier Hebel der Modernisierung von Führung, Personalführung, H. 6, S. 18–23.

Fölsing, Albrecht (2013), Albert Einstein. Eine Biographie, 5. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Kaube, Jürgen (2020), Hegels Welt, Berlin: Rowohlt.

Kuhlmann, Heike/Sandra Horn (2020), Integrale Führung. Wie Sie mit neuen Ansätzen sich selbst, Teams und Unternehmen entwickeln, 2. Aufl., Wiesbaden: Springer Gabler.

Laloux, Frederic (2014), Reinventing Organizations. A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness, Brussels: Nelson Parker.

Laloux, Frederic (2015), Reinventing Organizations. Ein Leifaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, München: Vahlen.

Manson, Mark (2020), The Rise and Fall of Ken Wilber, https://markmanson.net/ken-wilber.

Meyerhoff, Jeff (2010), Bald Ambition: A Critique of Ken Wilber’s Theory of Everything: Inside the Curtain Press.

Wilber, Ken (1995), Sex, Ecology, Spirituality. The Spirit of Evolution, Boston: Shambhala.

Wilber, Ken (2000), A Theory of Everything. An Integral Vision of Politics, Science and Spiruality, Boston: Shambhala.

Wilber, Ken (2006), What We Are, That We See, http://www.kenwilber.com/blog/show/46.

Wittrock, Dennis (2007), Was heißt „integrale Organisation“? Soziokratie, Holakratie und die Evolution menschlicher Organisationsformen, integrale perspektiven, H. 5, S. 4–11.

Wittrock, Dennis (2020), Geleitwort, in: Heike Kuhlmann/Sandra Horn (Hg.), Integrale Führung. Wie Sie mit neuen Ansätzen sich selbst, Teams und Unternehmen entwickeln, Wiesbaden: SpringerGabler, S. v–vii.

Autor

Prof. Dr. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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