Zum Hauptinhalt der Webseite
Holacracy

Holacracy in a Nutshell

  • Stefan Kühl
  • Freitag, 12. Mai 2023
Holacracy in a nutshell

Eine kompakte Beschreibung eines Managementkonzepts

Nach Verständnis der Holakraten sind Rollen „die grundlegenden Bausteine“ in der Struktur einer Organisation. Rechte werden nach dieser Vorstellung „nicht an einzelne Menschen“ verteilt, sondern an „Rollen“. Diese Rollen würden von Mitarbeiter:innen lediglich „energetisiert“ werden (Robertson 2016, S. 36; siehe auch Robertson 2015b, S. 38, Kursivsetzung im Original). Unter Rollen wird dabei in der Sprache ein „organisatorisches Konstrukt“ verstanden, das von einer Person im „Sinne der Organisation ausgeübt“ wird und durch sie „Energie“ verliehen bekommt (Xpreneurs 2021, 1.1; siehe auch HolacracyOne 2020, 1.1).

Jetzt ist die Übernahme von einer Rolle in Organisationen erst einmal nichts Besonderes. Mit dem Eintritt in die Organisation wird dem neuen Mitglied eine spezifische Rolle – sei es die Fertigung von Werkzeugteilen, die Führung eines Montageteams oder die Beantwortung von eingehenden Anfragen – zugewiesen. Diese zugeordneten Rollen können dabei durch Veränderungen der Aufgaben, Versetzungen in ein neues Team oder durch den Aufstieg in der Hierarchie verändert werden. Die Besonderheit der Holacracy ist nun, dass Mitarbeiter:innen eine ganze Reihe unterschiedlicher, in verschiedenen Bereichen der Organisation verankerten Rollen einnehmen können. Jedes Organisationsmitglied – in der Terminologie von Holakraten ist von Partnern die Rede – stellt sich ein eigenes Rollen-Potpourri zusammen (siehe dazu auch Sua-Ngam-Iam und Kühl 2021, 43ff.; Sua-Ngam-Iam 2023).

Dabei wird jede einzelne Rolle detailliert über Zwecke, über Zuständigkeits­bereiche und über Aufgaben definiert. Mit Sinn aufgeladene Zwecke– auch „Purposes“ genannt – beschreiben, warum es die Rolle gibt und was mit ihr angestrebt wird. Ein Zuständigkeitsbereich – eine sogenannte „Domain“ – definiert den Bereich alleiniger Befugnis der Rolle. Die Aufgaben der Rolle – die „Accountabilities“ – definieren die Ziele, die mit dieser Rolle erreicht werden sollen (siehe HolacracyOne 2020, 1.1; Xpreneurs 2021, 1.1; einschlägig Robertson 2016, 41f.; siehe auch Robertson 2015b, 42f.).

Wenn ein Organisationsmitglied eine Rolle ausfüllt, erhält dieses Mitglied „die Autorität, jede Handlung auszufüllen“, die es als Rollenträger:in für nützlich hält, um „die Aufgabe der Rolle auszudrücken oder einer ihrer Verantwortlichkeiten nachzukommen“ – so gut das mit den „verfügbaren Ressourcen“ möglich ist (Robertson 2016, S. 75; siehe auch Robertson 2015a, 70f.). Ein Organisations­mitglied kann innerhalb einer Rolle also jede Entscheidung treffen, die „den Sinn und Zweck“ dieser Rolle zum Ausdruck bringt (Xpreneurs 2021, § 4; siehe auch HolacracyOne 2020, § 4). Kurz – das Organisationsmitglied hat bei der Ausübung der Rolle Autonomie, solange es „nicht den Bereich einer anderen Rolle“ verletzt (Robertson 2016, S. 75; siehe auch Robertson 2015a, 70f.) oder gegen eine der in der holakratischen Verfassung „definierten Regel verstößt“ (Xpreneurs 2021, § 4; siehe auch HolacracyOne 2020, § 4).

Die Besonderheit dieser Betonung auf Rollen mag auf den ersten Blick überraschend klingen, weil letztlich jede Organisation auf die Ausdifferenzierung von Rollen angewiesen ist. Dieses Prinzip der Rollenausrichtung wird jedoch in der Holacracy radikalisiert, indem Aufgaben konsequent nicht an einzelne Personen, sondern explizit an Rollen übertragen werden. Aufgaben werden in Besprechungen dann nicht an „Rebecca“, Kim“ oder „Brian“ übertragen, sondern an „Trainer“, „Programm-Designer“ oder „Finanzen“. Kolleg:innen werden in den Besprechungen nicht als „Lee“, „Rachel“ oder „Phoebe“, sondern als „Marketing“, „Web-Manager“ oder „Trainings-Manager“ adressiert (Robertson 2016, 39f.; Robertson 2015b, S. 40). „Role over Soul“ ist die Kurzformel, mit dem sich dieses Prinzip auf den Punkt bringen lässt.[1]

Durch das Zusammenführen von Rollen entstehen Kreise, die wie die Rollen durch Zwecke, Zuständigkeitsbereiche und Aufgaben definiert werden. Zentral ist dabei auch hier der Gedanke, dass die Kreise nicht aus Personen, sondern aus Rollen bestehen. „Der Kreis ist“, so das Credo der Holakraten, „keine Gruppe von Menschen, sondern eine Gruppe von Rollen“. Ein Kreis ist, so die holakratische Verfassung, ein „Container“, um Rollen „auf einen gemeinsamen Sinn und Zweck“ hin zu organisieren (Xpreneurs 2021, 1.3; in der englischen Variante HolacracyOne 2020, 1.3). Ein Kreis hat dabei die Autonomie, „sich selbst zu organisieren, und die Arbeiter:innen aller Rollen, die er enthält, zu koordinieren und zu integrieren (Robertson 2016, S. 45; siehe auch Robertson 2015b, S. 45).

Ausgangspunkt einer holakratischen Organisation ist dabei der sogenannte „Ankerkreis“ – auch General Company Circle genannt – der alle anderen Kreise umfasst. Die Oberzwecke dieses Ankerkreises sind dabei identisch mit den Oberzwecken der gesamten Organisation (siehe dazu Robertson 2016, 43ff.; siehe auch Robertson 2015b, 43ff.).[2] Die Bildung von Unterkreisen innerhalb dieses Ankerkreises dient dazu, verschiedene Rollen zusammenzuführen, die gemeinsam einen aus den Oberzwecken abgeleiteten Unterzweck erfüllen sollen. Diese Unterkreise können dann weiter in Unterunterkreise differenziert werden, die für die Erfüllung der aus den Unterzwecken abgeleiteten Unterunterzwecke verantwortlich sind (siehe dazu Robertson 2016, S. 46; siehe dazu auch Robertson 2015b, S. 46). Diese Differenzierung in Sub-Kreise kann so lange wiederholt werden, bis der erwünschte Fokussierungsgrad erreicht wurde.

Bei der Bildung eines jeden Kreises wird eine „Führungsgliedrolle“ – je nach Sprachregelung auch Lead-Link-Rolle, Circle-Lead-Rolle oder Kreis-Lead-Rolle genannt – geschaffen (siehe dazu Robertson 2016, S. 46f.; siehe auch Robertson 2015b, 46ff.). Die Führungsgliedrolle ist für den „gesamten Sinn und Zweck“ des Kreises verantwortlich, solang die Verantwortlichkeiten nicht durch andere Rollenträger:innen im Kreis abgedeckt werden (Xpreneurs 2021, 1.4 oder englisch HolacracyOne 2020, 1.4). Die Führungsgliedrolle jedes Kreises hat die Aufgabe, die Rollen dieses Kreises durch Mitglieder zu besetzen, ihre Passung im Hinblick auf die Rolle zu beobachten und Mitglieder wieder von Rollen zu entfernen, sollte die Passung nicht mehr gegeben sein. Welche Rollen zu besetzen sind, wird in den Kreisen selbst festgelegt. Vorgeschrieben ist lediglich, dass jeder Kreis neben der vom übergeordneten Kreis besetzten Führungsgliedrolle auch eine Repräsentationsgliedsrolle hat, die die Interessen des Kreises im übergeordneten Kreis vertritt.

Die Personen in den Führungsgliedrollen – kurz die Lead-Links, Circle-Leads oder Kreis-Leads – dürfen Rollen innerhalb ihres Zirkels nur mit einer Person besetzen, die auch „gewillt ist, sie auszuüben“. Sie müssen zugleich akzeptieren, wenn Personen von diesen Rollen wieder zurücktreten (Xpreneurs 2021, 1.4.1; siehe auch HolacracyOne 2020, 1.4.1). Wenn aber eine Person eine Rolle innerhalb eines Kreises übernommen hat, dann muss sie der Person in Führungsgliedrolle Auskunft über „Projekte und nächste Schritte“ sowie die „relative Priorität“ bei den Projekten geben, „Voraussagen“ über den Abschluss von Projekten liefern und über „Kennzahlen“ informieren (Xpreneurs 2021, 2.1; siehe auch HolacracyOne 2020, 2.1).

Das Buch zum Thema

Schattenorganisation: Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

Jedes Mitglied hat die Verpflichtung, den Zuschnitt von Kreisen und Rollen auf ihre Sinnhaftigkeit sowie die Ausführung der Rollen anderer Organisations­mitglieder hinsichtlich des Erreichens ihrer Zwecke und der Erfüllung ihrer Aufgaben zu überwachen. Werden Probleme bei der Erreichung der formulierten Zwecke und der definierten Aufgaben festgestellt, hat jedes Mitglied die Pflicht, diese als Spannungen – sogenannte „tensions“ – zu thematisieren (siehe dazu Laloux 2015, S. 122; Laloux 2014, S. 121). Die Spannungen der Mitglieder werden dabei nach einem genau vorgegebenen Ablaufplan in Sitzungen des Kreises – den sogenannten „Governance Meetings“ und „Tactical Meetings“ – bearbeitet. Dadurch soll sowohl eine schrittweise Verbesserung der inneren Struktur als auch eine schnelle Anpassung an sich rasant ändernde Umweltanforderungen ermöglicht werden (vgl. Robertson 2015a, 9ff.).

Veränderungen in der Formalstruktur werden dabei nicht durch den Lead Link, sondern durch alle Rollenträger:innen innerhalb eines Kreises nach dem „Konsent-Prinzip“ entschieden. Konsent-Prinzip bedeutet, dass anders als beim Konsens-Prinzip nicht alle Mitarbeiter:innen einer vorgeschlagenen Lösung zustimmen müssen, sondern dass lediglich kein:e Mitarbeiter:in grundlegende Zweifel an dieser hat. Jedes Organisationsmitglied, das den Eindruck hat, dass „eine Rolle geschaffen, verändert oder abgeschafft werden sollte“, kann etwas auf die Tagesordnung eines „Governance Meetings“ setzen lassen. Auf dem Meeting stellt der Vorschlagende zuerst „seinen Vorschlag und das Problem, das durch den Vorschlag gelöst werden soll“, vor. Dann kann jede:r „Verständnis­fragen stellen, um Informationen zu erhalten oder den Vorschlag besser zu verstehen“, ohne aber schon selbst auf den Vorschlag reagieren zu dürfen. Als nächstes folgt dann eine „Reaktionsrunde“, in der jeder auf den Vorschlag reagieren kann, ohne dass es dabei aber zu einer Diskussion kommen darf. Der Vorschlagende kann dann „die Absicht seines Vorschlags weiter erklären oder den Vorschlag basierend auf der vorhergehenden Diskussion verändern“. Als nächstes fragt der Moderator oder die Moderatorin des Meetings die Teilnehmenden ab, ob irgendjemand einen Grund sieht, warum die „Annahme dieses Vorschlags Schaden anrichten“ oder die Organisation „zurückwerfen könnte“. Wenn „keine Einwände im Raum sind“ gilt – so die Grundidee des Konsent-Prinzips – der Vorschlag als angenommen. Nur wenn ein Einwand formuliert wird, gibt es eine „offene Diskussion“, um „einen veränderten Vorschlag zu finden“ (nach Laloux 2015, S. 120; siehe auch Laloux 2014, 119f.).

Man darf sich nicht entmutigen lassen, wenn sich bei der Lektüre des holakratischen Regelwerks – oder allein nur dieser kompakten Zusammen­fassung – Ermüdungserscheinungen einstellen. Es mag Personen geben, die an der Lektüre von Verfassungen – egal ob von Staaten oder von Organisationen – Freude haben, schon als Jugendliche im Urlaub Grundgesetze mit einem Marker durchgearbeitet haben und sich die Realität der Welt über Gesetzestexte erschließen.[3] Die große Mehrzahl von Personen wird sich nicht zu dieser Gruppe zählen. Aber um Holacracy zu verstehen, braucht man sich auch gar nicht zu einer Verfassungsspezialistin oder einem Verfassungs­spezialisten zu entwickeln. Man begreift Holacracy, wenn man sich anschaut, wie in holakratischen Organisationen versucht wird, die Effekte klassischer Organisationen zu vermeiden.

[1] Interessant ist, dass aus der ursprünglichen Differenzierung von „role and soul“ (Robertson 2015b, S. 40) schrittweise das Prinzip „role over soul“ wurde (so Peters 2018 oder Robertson 2021).
[2] Zur Bestimmung in der Version 5.0 der Verfassung siehe HolacracyOne 2020, 1.3.3 oder Xpreneurs 2021, 1.3.3.
[3] Ich gestehe, dass ich zu dieser Gruppe Jugendlicher gehörte, die ausgesprochene Freude an der Lektüre von Verfassungstexten hatten. Ich hatte aber auch den damals für mich irritierenden Eindruck, dass dieses Hobby von vergleichsweise wenigen Personen in meiner Altersgruppe geteilt wurde.

Literatur

HolacracyOne (2020): Holacracy Constitution 5.0. Houston: Holacracyone.
Laloux, Frederic (2014): Reinventing Organizations. A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness. Brussels: Nelson Parker.
Laloux, Frederic (2015): Reinventing Organizations. Ein Leifaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen.
Peters, Vic (2018): The Relationsship between Roles and Authority. Online verfügbar unter https://medium.com/@sandro997/the-relationship-between-roles-and-authority-9716e9a6d18c.
Robertson, Brian J. (2015a): Holacracy. The New Management System for a Rapidly Changing World. New York: Henry Holt.
Robertson, Brian J. (2015b): Holacracy. The Revolutionary Management System that Abolishes Hierarchy. London: Portfolio Penguin.
Robertson, Brian J. (2016): Holacracy. Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. München: Verlag Franz Vahlen.
Robertson, Brian J. (2021): Holacracy Mastermind Brian Robertson as our Guest. Online verfügbar unter https://www.linkedin.com/pulse/holacracy-mastermind-brian-robertson-our-guest-way-new-trautmann/.
Sua-Ngam-Iam, Phanmika (2023): Kreise, Komplexität und Krisen – Holacracy auf dem organisationswissenschaftlichen Prüfstand. In: Stefan Kühl und Phanmika Sua-Ngam-Iam (Hg.): Holacracy. Funktionen und Folgen eines Managementmodells. Wiesbaden: Springer Gabler.
Sua-Ngam-Iam, Phanmika; Kühl, Stefan (2021): Das Wuchern der Formalstruktur. In: Journal für Psychologie 29, S. 39–71.
Xpreneurs (2021): Holacracy® Verfassung. Version 5.0 – DE: xpreneurs.

Autor

Prof. Dr. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

LinkedIn® Profil anzeigen