Zum Hauptinhalt der Webseite
Holacracy

Aufbau von eleganten Hinterbühnen in Organisa­tionen

  • Stefan Kühl
  • Donnerstag, 29. Juni 2023
Transparenz

Die Sache mit der Transparenz

Während in vielen klassischen Organisationen Transparenzansprüche lediglich auf der Schauseite eine Bedeutung haben, werden sie in holakratischen Organisationen operativ umgesetzt. Durch die holakratische Software sind für alle Mitarbeiter alle Überlegungen, Diskussionsprozesse und Entscheidungen in der Organisation jederzeit einsehbar. Diese Transparenz bezieht sich nicht nur auf die Kreise, in denen man selbst aktiv ist, sondern auch auf alle anderen Kreise. Transparenz ist in holakratischen Organisationen aufgrund der Steuerung über die Betriebssoftware fast idealtypisch umgesetzt (siehe dazu Minnaar/van Vondelen 2022: 137).

Der Transparenzanspruch beschränkt sich dabei vielfach nicht nur auf die durch die holakratische Verfassung vorgegebenen Prozesse, sondern wird nicht selten auch auf andere zentrale Prozesse ausgeweitet. Über die Softwareprogramme der Organisation können die Mitarbeiter einer Organisation vielfach nicht nur auf die finanzielle Situation und den Stand aller Projekte zugreifen, sondern auch auf die Qualifikation und die Entlohnung aller Mitarbeiter (siehe dazu Laloux 2014: 217; Laloux 2015: 219).

Weitergehend – nicht selten sind über das Internet über die Zirkel, Rollen und Aufgaben alle Organisationsmitglieder bis ins Detail einsehbar. Man muss dafür nur über das Internet auf ein Person gehen, die dort präsentiert wird, und kann sich dann über die Funktion „Alle meine Rollen“ die Rollen, Mitglieder, Policies, Notizen, Projekten, Kennzahlen, Checklisten und Diskussionsverläufe alle Zirkel im Detail ansehen.

Wie wirken sich Transparenzansprüche in der Praxis holakratischer Organisationen aus?

Die Ausbildung von Hinterbühnen

Bei allen hehren Ansprüchen lässt sich beobachten, dass in holakratischen Organisationen im Schatten der auf Transparenz ausgerichteten Vorderbühne zentrale Fragen auf intransparenten Hinterbühnen geklärt werden. Wichtige Entscheidungen werden nicht in der holakratischen Struktur diskutiert, sondern in geschlossenen Channels im organisationsinternen Kommunikationssystem vorentschiedenen (siehe dazu Brodda 2023). Die durch die Einführung der holakratischen Verfassung sich selbst wenigstens formal entmachtenden Gründer treffen sich in organisationsexternen Messenger-Diensten, in denen Entscheidungen für die holakratische Organisation vorbereitet werden. Es werden jenseits der offiziellen Ablagesysteme schwarze Listen von Mitarbeitern geführt, von denen sich die Organisation trennen sollte.

Wir wissen aus der Organisationsforschung, dass durch starke Transparenzansprüche geprägte Organisationen ausgeprägte Kulturen informaler Abstimmungen ausbilden (siehe dazu ausführlich Kühl 2020a: 142ff.). Statt Dokumente auf offiziellen Laufwerken abzulegen, werden auf dem eigenen Computer gesonderte Listen und Pläne geführt, die nicht ohne Weiteres einsehbar sind. Statt sich kurz schriftlich zu verständigen, stimmt man sich über relevante Punkte nur noch in Face-to-Face-Kommunikationen ab, weil dadurch die Wahrscheinlichkeit geringer ist, dass Spuren in den Akten hinterlassen werden. Es bilden sich „Sofa-Kulturen“ heraus, in denen Abstimmungen nicht mehr in formalen, protokollierten Sitzungen, sondern nur noch in informalen, nicht dokumentierten Zirkeln stattfinden (siehe dazu die Fallstudien z.B. von Roberts 2006; Ringel 2018b).

Das Buch zum Thema

Schattenorganisation: Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

Das Transparenzparadox holakratischer Organisationen

In der Organisationsforschung wird der Effekt als Transparenzparadox bezeichnet. Je stärker Transparenz in der Organisation eingefordert wird desto stärker sind die Bemühungen des Versteckens. In der Formalstruktur wird in den durch Transparenzmaßnahmen erfassten Organisationen alles zugänglich gemacht. Prozesse sind allgemein einsehbar, Dokumente sind zugänglich und Anweisungen werden in Aktennotizen niedergelegt. Es bilden sich ausgeprägte „Ankreuz-Kulturen“ aus, in denen Organisationsmitglieder permanent bezeugen müssen, dass sie eine Information zur Kenntnis genommen, eine Prozedur beachtet oder eine Handlung ausgeführt haben (siehe dazu einschlägig O’Neill 2010).

Begleitet wird dies jedoch in der Informalität von immer undurchsichtigeren Informations- und Dokumentationsprozessen. Es werden bewusst Aktenwüsten produziert, in denen sensible Informationen unauffindbar sind, oder oberflächliche Power-Point-Präsentationen werden als Protokolle abgelegt, um genaue Dokumentationen zu verhindern. Sensible Kommentare werden mit Post-It-Notes angebracht, weil diese vor einer Archivierung entfernt werden können (siehe zu diesen Strategien Hood 2007: 204). Das Ergebnis der Bemühungen um interne Transparenz ist dann nicht das erhoffte Verschwinden einer Hinterbühne der Organisation, sondern, im Gegenteil, die Ausbildung einer besonders geschickt versteckten Hinterbühne (siehe dazu die Fallstudie von Strothotte 2023).

Diese informalen Kommunikationswege können eine solche Dynamik entwickeln, dass im Schatten weitgehender Transparenz ganze Unternehmensteile ihren Ausstieg aus der Organisation vorbereiten. So kann es schon einmal passieren, dass in einer Beratungsfirma, die sich den holakratischen Transparenzkriterien verschreibt, Berater ohne Wissen des Rests der Organisation ihre eigene holakratische Beratungsorganisation planen, über Nacht alle anderen mit ihrem Ausscheiden überraschen und die Verbliebenen sich wundern, wie in einem holakratischen System, das Spannungen für alle transparent machen soll, eine solche Abspaltung möglich ist.

Holakratische Organisationen sind ein Musterbeispiel dafür, dass Organisationen gleichzeitig sehr viel transparenter und sehr viel intransparenter werden (siehe zu diesem Phänomen Osrecki 2015: 355). Jedes Organisationsmitglied bekommt über die IT-Systeme tiefe Einblicke in die formalen Erwartungen der Organisation und muss gleichzeitig sehr viel Zeit dafür aufwenden, die gut versteckten informalen Erwartungen zu verstehen und zu nutzen.

Literatur

Brodda, Dustin (2023), »Führen ohne Weisungshierarchie. Über die informale
Kompensation hierarchischer Kontrolle in holakratischen Organisationen«, in:
Stefan Kühl/Phanmika Sua-Ngam-Iam (Hg.), Patentrezept Holacracy? Funktionen
und Folgen eines Managementmodells, Wiesbaden: Springer Gabler, im Erscheinen.
Hood, Christopher (2007), »What Happens When Transparency Meets Blame-
avoidance?«, Public Management Review, Jg. 9, H. 2, S. 191–210.
Kühl, Stefan (2020a), Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen, Frankfurt a.M./New York: Campus.
Laloux, Frederic (2014), Reinventing Organizations. A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness, Brussels: Nelson Parker.
Laloux, Frederic (2015), Reinventing Organizations. Ein Leifaden zur Gestaltung
sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, München: Vahlen.
Minnaar, Reinald/Svenja van Vondelen (2022), »Control in holacratische organisaties: een verkennend onderzoek naar de controlmechanismen achter zelfsturing«, Maandblad voor Accountancy en Bedrijfseconomie, Jg. 96, 5/6, S. 133–143.
O’Neill, Onora (2010), A Question of Trust, 5. Aufl., Cambridge: Cambridge University Press.
Osrecki, Fran (2015), »Fighting Corruption with Transparent Organizations. Anti-
corruption and Functional Deviance in Organizational Behavior«, Ephemera, Jg. 15, S. 337–364.
Ringel, Leopold (2018b), »Unpacking the Transparency-Secrecy Nexus. Frontstage and Backstage Behaviour in a Political Party«, Organization Studies, Jg. 91, 705–723.
Roberts, Alasdair (2006), »Dashed Expectations. Governmental Adaption to
Transparency Rules«, in: Christoph Hood/David Heald (Hg.), Transparency. The Key
to Better Governance?, Oxford: Oxford University Press, S. 107–125.
Strothotte, Adrian (2023), »Purpose und Selbstorganisation. Über Funktionen und
Folgen von Zwecken in holakratischen Organisationen«, in: Stefan Kühl/Phanmika
Sua-Ngam-Iam (Hg.), Patentrezept Holacracy? Funktionen und Folgen eines
Managementmodells, Wiesbaden: Springer Gabler, im Erscheinen.

Autor

Prof. Dr. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

LinkedIn® Profil anzeigen

Du interessierst dich für unsere Themen?

Mit dem VERSUS Newsletter halten wir dich regelmäßig über neue Artikel, Themen und Angebote auf dem Laufenden.