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Holacracy

Zum Verhältnis von Hyper­stabilität und Hyper­flexibilität

  • Stefan Kühl
  • Donnerstag, 15. Juni 2023
Hyperstabilität

Starrheit holakra­tischer Organisa­tionen

Das holakratische Organisationsprinzip wird als Prototyp einer evolutionären Organisation angepriesen. Die holakratischen Organisationen passten sich ständig an und korrigierten sich ständig selbst. Jeder der spüre, dass „sich in der Organisation etwas ändern“ sollte, wüsste, dass es einen Ort gibt, um „diese Ideen zum Ausdruck zu bringen und Reaktionen darauf zu erhalten“ (so Laloux 2015, S. 121; siehe auch für das englische Original Laloux 2014, S. 120).

Der Anspruch des holakratischen Organisationsmodells ist, dass die formale Struktur durch einen „von unten“ getriebenen Formalisierungsprozess permanent angepasst werden kann. Durch die einfache Veränderung des Zuschnitts von Rollen und Kreisen sowie deren Aufgaben soll es möglich sein, sich schnell an verändernde Bedingungen anzupassen. Eine inkrementale Verbesserung der formalen Struktur auch angesichts sich permanent verändernder Rahmenbedingungen soll das Ergebnis sein (siehe Robertson 2015, 19ff.).

Die Tücken einer organisations­übergreifenden Verfassung

Bei aller Flexibilität in der Anpassung von Kreisen, Rollen und Aufgaben in den Zirkeln, sind die Grundprinzipien der Holacracy von den einzelnen Organisationen nur mit einem extrem hohen Aufwand zu modifizieren. Der Grund für diese auffällige Starrheit holakratischer Organisationen liegt darin, dass die Organisationen nicht von sich aus die holakratische Verfassung anpassen können. Die Verfassung ist im holakratischen Verständnis der Garant dafür, dass die Organisation nicht schleichend wieder in eine durch Hierarchien und Abteilungen gebundene Organisationsstruktur zurückfällt. Mit dem Unterschreiben dieser Verfassung kauft man das Prinzip komplett und sichert so die Holacracy in der Organisation ab.

Die einzige Möglichkeit zur Anpassung der Verfassung besteht darin, dass sich die Holakraten weltweit auf eine neue Verfassung einigen. Während die ersten Versionen der Verfassung noch von einem Erfinder des Konzeptes allein entwickelt wurde, waren an den weiteren Versionen schon eine ganze Reihe von Beratern beteiligt, die letzte Version wurde dann schon über eine Kooperations-Software im Internet gesteuert. Das Ergebnis der jeweiligen Überarbeitungsprozesses ist eine neue Version der Verfassung, die dann von holakratischen Organisationen als Ganzes übernommen werden muss.

Selbstverständlich könnte man einwenden, dass keine Organisation daran gehindert werden kann, die Verfassung mit einem Federstrich wieder zu verändern. Das wird jedoch faktisch durch die enge Kopplung zwischen der holakratischen Verfassung und der holakratischen Steuerungssoftware blockiert. Die Anpassung der holakratischen Steuerungssoftware findet immer nur dann statt, wenn das Beratungsunternehmen die Verfassung ändert. Deswegen ist es für die holakratischen Organisationen faktisch unmöglich, auch nur kleinere Anpassungen an den Grundprinzipien vorzunehmen, weil sie durch die Software nicht unterstützt wird.

Das Buch zum Thema

Schattenorganisation: Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

Zum Verhältnis von Hyperstabilität und Hyperflexibilität

Jede Organisation steht vor der widersprüchlichen Anforderung, dass sie sowohl Redundanz als auch Varianz braucht, aber nicht beides zugleich anstreben kann (siehe dazu einschlägig Thompson 1967, 10ff.). Redundanz bezeichnet dabei die Sicherheit, mit der man davon ausgehen kann, dass die Grundlagen für Entscheidungen stabil bleiben, Varianz die Schnelligkeit, mit der diese Grundlagen sich ändern können (siehe dazu Luhmann 1988, 173ff.). In diesem Spannungsfeld zwischen Redundanz und Varianz versucht jede Organisation bei der Gestaltung ihrer Formalstruktur einen Mittelweg zwischen der „Selbstlähmung perfekter Ordnung“ und der „Willkür perfekter Unordnung“ zu finden (Willke 1989, 96f.).

Das Auffällige bei holakratischen Organisationen ist, dass sie Hyperstabilität in den formalen Grundprinzipien mit einer Hyperflexibilität bei der detaillierten Ausgestaltung der formalen Strukturen im Rahmen dieser Grundprinzipien kombiniert. Die in der organisationsübergreifenden Steuerungssoftware festgelegte Verfassung ermöglicht der Organisation zwar, flexibel Kreise und Rollen anzupassen, aber eine Modifikation ihrer formalen Grundstruktur ist nur unter extrem hohem Aufwand möglich.

Literatur

Laloux, Frederic (2014): Reinventing Organizations. A Guide to Creating Organizations Inspired by the Next Stage of Human Consciousness. Brussels: Nelson Parker.
Laloux, Frederic (2015): Reinventing Organizations. Ein Leifaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Vahlen.
Luhmann, Niklas (1988): Organisation. In: Willi Küpper und Günther Ortmann (Hg.): Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen. Opladen: WDV, S. 165–186.
Robertson, Brian J. (2015): Holacracy. The New Management System for a Rapidly Changing World. New York: Henry Holt.
Thompson, James D. (1967): Organizations in Action. New York: McGraw-Hill.
Willke, Helmut (1989): Systemtheorie entwickelter Gesellschaften. Dynamik und Riskanz moderner gesellschaftlicher Selbstorganisation. Weinheim: Juventa.

Autor

Prof. Dr. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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