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Holacracy

Schatten­strukturen

  • Stefan Kühl
  • Donnerstag, 22. Juni 2023

Informale Korrektur­mechanismen hyperformali­sierter Organisa­tionen

Für die klassischen, auf der Abgrenzung zwischen Abteilungen und der Ausbildung von Hierarchien basierenden Organisationen ist durch die Organisationsforschung herausgearbeitet worden, dass die formale Erwartungsbildung immer durch eine informale Erwartungsbildung ergänzt wird. Viele Erwartungen in Organisationen, so die Beobachtung, ließen sich gar nicht formalisieren, sodass es zwangsläufig zur Ausbildung ergänzender und konkurrierender informaler Erwartungen käme. Weitergehend seien viele formale Erwartungen in Organisationen für viele Situationen gar nicht passend, sodass sich abweichende informale Erwartungen ausbilden (Luhmann 1964, 27f.).

Wie stellt sich dieses Wechselverhältnis von Formalität und Informalität in Organisationen dar, die sich in einer holakratischen Verfassung der Auflösung von Abteilungen und der Aufweichung von Hierarchien verschreiben?

Die Entstehung von Schattenabteilungen

In der holakratischen Organisation werden komplexere Prozesse der Arbeitsteilung durch das Prinzip der Kreise ersetzt. In der Vorstellung der Holakraten ist jeder Keis eine sich selbst organisierende Einheit mit eigenen Rechten. Sie werden dann gebildet, wenn eine Aufgabe nicht durch eine Rolle allein ausgeübt werden kann und eine systematische Koordination zwischen mehreren Rollen notwendig ist. Das Prinzip der Abteilungen wird formal dadurch unterlaufen, dass ein Organisationmitglied mit ganz unterschiedlichen Rollen in verschiedenen Kreisen tätig sein kann (siehe dazu Mitterer 2015). Dadurch werden die Mitarbeiter nicht einer Abteilung, sondern unterschiedlichen Kreisen zugeordnet, wodurch – jedenfalls in der Vorstellung der Holakraten – die sonst zu beobachtenden typischen Silobildungen unterlaufen werden.

Aus einer organisationssoziologischen Perspektive ist jedoch interessanter, dass die holakratische Kreisstruktur in vielen Organisationen letztlich eine klassische Abteilungsstruktur widerspiegelt. Bei den meisten holakratischen Organisationen scheinen Mitglieder mit einer „Hauptrolle“ – zum Beispiel als Programmierer, als Finanzverwalter oder Personalmanager – eingestellt zu werden. Das führt dazu, dass in den meisten Fällen die überwiegende Arbeitszeit in einem Kreis abgeleistet wird. In diesem Kreise können auch Personen mit „Hauptrollen“ in anderen Kreisen aufgenommen werden, aber die nehmen dann zwangsläufig eher zuarbeitende oder beratene Funktionen ein (siehe dazu Kühl 2023).In der holakratischen Steuerungssoftware sind diese faktisch existierenden Abteilungen häufig auf den ersten Blick nicht erkennbar, aber durch einen zweiten Blick in die Organisation dann doch zu identifizieren. Wenn die Organisation neue Räume bezieht, dann bilden die Mitglieder, die häufiger zusammenarbeiten, eine Tischgruppe, auch wenn ihre regelmäßige Kooperation nicht durch einen Kreis abgebildet wird. Die Tischgruppen geben sich dann eigene Namen und schmücken ihre Tischgruppe mit Symbolen, die markieren, dass die Mitarbeiter hier zu einer Abteilung gehören, die offiziell als Abteilung gar nicht existiert (siehe für Empirie Kühl 2023).

Besonders deutlich wird die Ausbildung von Abteilungen im operativen Kern – also dem wertschöpfenden Zentrum der Organisation. Gerade in projektbasierten Firmen, die über die holakratische Organisationskonzeption geführt werden, sind die operativen Bereiche häufig auffällig „holakratiearm“. Die Projektteams werden nicht – oder nur rudimentär – in der holakratischen Organisationsstruktur abgebildet, sondern stattdessen vorrangig über eine eigene Projektmanagementsoftware koordiniert. Die Projektsteuerung findet dann nicht selten über einen Projektmanager statt, der gegenüber den Kunden verantwortlich ist und die Aufgaben an einzelne Teams oder Teammitglieder verteilt (siehe dazu auch Hodgson 2004).

Dabei kann in holakratischen Organisationen die Silobildung durch die Steuerung über „Dashboards“ – Management-Cockpits, in denen zentrale Kennziffern abgebildet werden – noch verstärkt werden. Die Leistungsdaten – zum Beispiel beim Kunden verrechnete Stunden – werden dabei für die Projektteams systematisch erhoben. Der Effekt ist, dass sich die Teams vorrangig auf die Erreichung der vorgegebenen Leistungsziele konzentrieren und sich vom Rest der Organisation abkapseln (siehe dazu Kühl 2023).

Das kann zum paradoxen Effekt führen, dass die Aufsetzung agiler Projektstrukturen in einer Organisation deren holakratische Grundprinzipien unterläuft. Es werden ganz im Sinne der agilen Projektmanagementlogik feste Teams gebildet, die sich mit Hilfe von Scrum-Mastern und Product-Ownern selbststeuern, sich täglich in Stand-Up-Meetings mit den immer gleichen Mitarbeitern abstimmen und in Retrospektiven über Schwierigkeit mit anderen Team-Mitgliedern reflektieren. Diese agilen Arbeitsformen konterkarieren mit der Ausbildung fester Teams, die ihre eigenen Silos bilden, die holakratische Struktur.

Die informale Silobildung in holakratischen Organisationen kann dadurch aufgelockert werden, dass Mitglieder zusätzlich zu den Aktivitäten, mit denen sie den Großteil ihrer Zeit verbringen, in fachlich orientierten Gemeinschaften zusammengezogen werden. Dafür werden dann Kreise gebildet, in denen zum Beispiel der fachliche Austausch von Spezialisten aus verschiedenen Teams oder die Entwicklung von Weiterbildungsformaten stattfinden kann. Faktisch finden wir eine ganz ähnliche Situation vor, wenn in klassischen Organisationen Spezialisten, die operativ in interdisziplinären Teams tätig sind, in einer Parallelstruktur der fachliche Austausch mit anderen Spezialisten in dem Gebiet ermöglicht wird.

Das Buch zum Thema

Schattenorganisation: Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

Die Ausdifferenzierung von Schattenhierarchien

In der holakratischen Verfassung ist – aller Anti-Hierarchie-Rhetorik zum Trotz – eine hierarchische Grundstruktur angelegt. Der Ankerkreis – der General Company Circle – legt die Lead Link Positionen in allen untergeordneten Kreisen fest und agiert faktisch als Spitze der Organisation. Weil in dem Ankerkreis die Unternehmensgründer, die Kapitalbesitzer und ehemaligen Manager eine wichtige Rolle spielen, gibt es die Möglichkeit, über die Besetzung der Lead Link Positionen Einfluss auf die Arbeit in den untergeordneten Kreisen zu nehmen.

Zentral ist dabei jedoch, dass es sich von der holakratischen Grundidee her nicht um eine personenbezogene, sondern um eine rollenbezogene Hierarchie handelt (siehe dazu auch Riederle 2017, 119f.). Das heißt, die Einflussmöglichkeiten des Lead Links beziehen sich von der Grundidee her nur auf die Person in ihrer Funktion als Rollenträgerin in einem Kreis, nicht auf die Person als Ganzes. Gerade wenn Organisationsmitglieder unterschiedliche Rollen in unterschiedlichen Kreisen einnehmen, gibt es in dieser rollenbezogenen Hierarchie in der formalen Struktur kaum noch Ähnlichkeiten mit den personenbezogenen Hierarchien klassischer Organisationen.

Interessant ist jedoch, dass sich häufig im Schatten der holakratischen Formalstruktur eine personenbezogene Hierarchie ausbildet (siehe dazu auch Goyk und Grote 2018; Martela 2019; Schell und Bischof 2022; Brodda 2023; Sua-Ngam-Iam 2023). In der einfachsten Variante findet sie – holakratisch korrekt – durch die Kombination von zentralen Rollen bei einzelnen Personen statt. In dem Moment, in dem eine Person die Rollen des Unterschriftengebers für zentrale Aufträge, des internen Arbeitsverteilers, des Entscheiders über Gehaltserhöhungen und die des finalen Entlassers innehat, kommt es faktisch zu einer Art personaler Führung durch diesen Rollenträger.

In kleineren holakratischen Organisationen wirken die Schattenhierarchien häufig unmittelbar. Die zentralen Rollen werden von den Gründern eingenommen, die sich informal koordinieren. Wenn die Gründer die Mehrheit des Kapitals an der Firma halten, wissen alle Mitarbeiter, dass diese mit einem Federstrich die holakratischen Prinzipien wieder zurücknehmen können und antizipieren das in ihren Entscheidungen. Die Mitarbeiter treffen die Entscheidungen so, wie diese vermutlich von den Gründern getroffen worden wären oder sprechen diese mit den Gründern ab, sodass diese Entscheidungen am Ende nur noch holakratisch abgesegnet werden müssen.

Die Ausbildung von hierarchischen Schattenstrukturen zeigen sich aber auch in größeren holakratischen Unternehmen. So wird in den Analysen festgestellt, dass durch die Holacracy das Unternehmen nicht alle Bosse abgeschafft hätte, sondern lediglich alle Bosse mit Ausnahme des Vorstandsvorsitzenden. Die „radikale neue Managementpolitik“ hätte, so die Analyse, das Unternehmen nicht in „eine Demokratie“, sondern „in eine Diktatur“ verwandelt (so Carr 2015). Der Effekt der konsequenten Dezentralisierung durch die Holacracy ist eine faktische Zentralisierung der Entscheidungsmacht (siehe zu dem Phänomen Kühl 2015, 117ff.; siehe auch die Fallstudie von Eilmes 2023).

Die informale Zentralisierung der Macht in holakratischen Organisationen hat eine schwerwiegende Konsequenz. Die Spitze der Organisation droht mit Entscheidungsanforderungen überlastet zu sein. Deswegen bilden sich in größeren holakratischen Organisationen im Schatten einer hierarchiearmen formalen Grundstruktur eine auf Personen bezogene informale hierarchische Parallelstruktur aus.

In dieser Schattenhierarchie werden weniger erfahrene Mitarbeiter jeweils einem erfahrenen Mitarbeiter zugeordnet. Diese erfahrenen Mitarbeiter – je nach Organisation „Personnel Excellence Leads“ oder „Human Success Advisors“ genannt – sind dann für das Fordern und Fördern der ihnen zugeordneten Mitarbeiter zuständig. Die „Personnel Excellence Leads“ oder „Human Success Advisors” beraten aber die Mitarbeiter nicht nur bezüglich ihrer Entwicklung in der Organisation, sondern tragen auch zu Entscheidungen über Gehaltssenkungen oder -steigerungen bei und haben maßgeblich Einfluss darauf, ob einer ihnen zugeordneten Person gekündigt wird oder nicht.

Die Mitarbeiter, die als informale Führungskräfte in der Organisation wirken, sind dabei in der Regel für acht bis zwölf Organisationsmitglieder verantwortlich und müssen aufgrund ihrer Führungsaufgaben geringere Anteile ihrer Arbeitszeit beim Kunden fakturieren. Auf den ersten Blick wird diese Schattenhierarchie durch die Darstellung in der holakratischen Software kaschiert. Auf den zweiten Blick ist die Ähnlichkeit zum klassischen Modell der Hierarchie mit disziplinaren Vorgesetzten, die sich neben einer Struktur fachlicher Vorgesetzter ausbildet, nicht zu übersehen (siehe dazu die Fallstudie bei Kühl 2023).

Literatur

Brodda, Dustin (2023): Führen ohne Weisungshierarchie. Über die informale Kompensation hierarchischer Kontrolle in holakratischen Organisationen. In: Stefan Kühl und Phanmika Sua-Ngam-Iam (Hg.): Holacracy. Funktionen und Folgen eines Managementmodells. Wiesbaden: Springer Gabler.
Carr, Paul Bradley (2015): Astonishingly, Tony Hsieh’s Holacracy Experiment is Causing Chaos at Zappos. Online verfügbar unter https://pandodaily.com/2015/10/07/astonishingly-tony-hsiehs-holacracy-experiment-causing-chaos-zappos.
Eilmes, Serafin (2023): Das Holacracy-Paradox. Wie durch präzise Regeln diffuse Regellosigkeit entsteht. In: Stefan Kühl und Phanmika Sua-Ngam-Iam (Hg.): Holacracy. Funktionen und Folgen eines Managementmodells. Wiesbaden: Springer Gabler.
Goyk, Rüdiger; Grote, Sven (2018): Holakratie – Ein neuer Stern am Himmel der Organisationsentwicklung? In: Sven Grote und Rüdiger Goyk (Hg.): Führungsinstrumente aus dem Silicon Valley. Konzepte und Kompetenzen. Berlin: Springer Gabler, S. 17–35.
Hodgson, Damian E. (2004): Project Work: The Legacy of Bureaucratic Control in the Post-Bureaucratic Organization. In: Organization 11, S. 81–100.
Kühl, Stefan (2015): Sisyphos im Management. Die vergebliche Suche nach der optimalen Organisationsstruktur. 2. Aufl. Frankfurt a.M., New York: Campus.
Kühl, Stefan (2023): Schattenstrukturen. Zur Ausbildung informale Strukturen in holakratischen Unternehmen. In: Stefan Kühl und Phanmika Sua-Ngam-Iam (Hg.): Holacracy. Funktionen und Folgen eines Managementmodells. Wiesbaden: Springer Gabler.
Luhmann, Niklas (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot.
Martela, Frank (2019): What Makes Self-managing Organizations Novel? Comparing How Weberian Bureaucracy, Mintzberg’s Adhocracy, and Self-organizing Solve Six Fundamental Problems of Organizing. In: Journal of Organization Design 8, S. 1–23. DOI: 10.1186/s41469-019-0062-9.
Mitterer, Gerald (2015): Holacracy – ein Fleischwolf für organisationale Entscheidungsprozesse. In: Eschenbach, Meyer, Herbert Schober und Horak (Hg.): Management der Nonprofit-Organisation – Bewährte Instrumente im praktischen Einsatz. Stuttgart: Schäffer-Poeschel, S. 426–432.
Riederle, Philipp (2017): Wie wir arbeiten und was wir fordern. Die digitale Generation revolutioniert die Berufswelt. München: Droemer.
Robertson, Brian J. (2015): Holacracy. The Revolutionary Management System that Abolishes Hierarchy. London: Portfolio Penguin.
Schell, Sabrina; Bischof, Nicole (2022): Change the Way of Working. Ways Into Self‐organization with the Use of Holacracy. An Empirical Investigation. In: European Management Review 19, S. 123–137. DOI: 10.1111/emre.12457.
Sua-Ngam-Iam, Phanmika (2023): Tauschgeschäfte. Das Verhältnis von Formalität und Informalität in der holakratischen Organisation. In: Stefan Kühl und Phanmika Sua-Ngam-Iam (Hg.): Holacracy. Funktionen und Folgen eines Managementmodells. Wiesbaden: Springer Gabler.

Autor

Prof. Dr. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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