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Holacracy

­Die Formen der Erwartungs­bildung in Organisationen

  • Stefan Kühl
  • Freitag, 7. Juli 2023
Erwartungsbildung

Ein Ordnungs­­­schema für agile Management­konzepte

Man muss etwas weiter ausholen, um zu verstehen, was man grundlegend aus dem Realexperiment der Holacracy lernen kann. Ausgangspunkt jeder Analyse einer Organisation – ja weitergehend auch jeder Analyse von Freundesgruppen, Kleinfamilien oder Protest­­bewegungen – liegt darin, zu prüfen, in welcher Form Erwartungen gebildet werden. Diese starke Fokussierung auf Erwartungsbildung mag überraschend kommen, aber erst über diese kann man verstehen, wie sich soziale Gebilde stabilisieren. Nur über Erwartungen wissen wir, welches Verhalten ein Gegenüber wahrscheinlich zeigen wird und welches Verhalten auf der anderen Seite das Gegenüber von einem selbst vermutet.

Die Entstehung von Erwartungen in Beziehungen kann weitgehend vorausset­zungslos vor sich gehen. Sie ist, um einen Ausdruck Niklas Luhmanns zu verwenden, „eine Primitivtechnik schlechthin“ (siehe auch maßgeblich für die folgende Argumentation Luhmann 1984, S. 363). Man kann antesten, ob das Bedürfnis nach einem guten Gespräch, nach einer engen Freundschaft oder nach einer sexuellen Beziehung geteilt wird oder nicht. Über die Erfüllung oder Enttäuschung von anfangs spontan gebildeten Erwartungen entwickelt man dann schrittweise Erwartungssicherheit. Man weiß dann irgendwann, dass man gute Gespräche nicht erwarten kann, wenn eine Kollegin gestresst ist, dass man den Anspruch an eine enge Freundschaft nicht Wildfremden gegenüber artikulieren sollte und die Anbahnung sexueller Beziehungen auf der korrekten Deutung der Signale des Gegenübers basieren.

Selbstverständlich kann man immer wieder versuchen, selbst herauszu­bekommen, welche spontan gebildeten Erwartungen sich bewähren und welche enttäuscht werden. Aber irgendwann in der Kindheit entdeckt man, dass es in der Gesellschaft Erwartungen gibt, von denen man ausgehen kann, dass sie sozial stärker unterstützt werden als andere (siehe dazu Luhmann 1984, S. 364). Man lernt, dass es nicht geduldet wird, wenn man nackt durch die Stadt radelt, dass aber Nacktheit in den eigenen vier Wänden normalerweise akzeptiert wird (siehe zum Realexperiment in Bielefeld Orth 2007).[1] Diese Erwartungen verfeinern sich immer weiter, bis man begriffen hat, dass das Recht auf Nacktheit in den eigenen vier Wänden eingeschränkt ist, wenn Besuch anwesend ist, oder dass es mit FKK-Stränden öffentliche Orte gibt, in der Nacktheit nicht nur akzeptiert ist, sondern sogar erwartet wird, gleichzeitig aber strikte Normen prägen, wo man hinschauen darf (zur Erwartungsbildung an Stränden siehe umfassend Kaufmann, 1996).

Welche Hilfsmittel stehen zur Verfügung, um Erwartungen in Organisationen zu bilden, wie hängen diese miteinander zusammen und welche Rolle spielen sie in der Holacracy?

Identifikation von Erwartungszusammenhängen

Wenn man sich Organisationen anschaut, stechen ganz unterschiedliche Formen der Erwartungsbildung hervor (siehe dazu einschlägig Luhmann 1972, 82ff.; Luhmann 1984, 426ff.). Man würde eine verfälschte Sicht bekommen, wenn man Organisationen nur als ein wertebasiertes Gebilde betrachten würde, nur als eine Ansammlung von überpersonalen Programmen, nur als eine Menge von Rollenträger:innen oder nur als eine Anhäufung von Personen. Statt der Fokussierung auf lediglich eine Form der Erwartungsbildung finden in Organisationen, je nach spezifischer Zusammensetzung, Erwartungsbildungen sowohl über Werte und Programme als auch über Rollen und Personen statt.

Werte stellen die abstrakteste Form der Erwartungsbildung dar. Es sind „Vorstellungen des Gewünschten“, die sich bei „der Wahl zwischen Handlungs­alternativen niederschlagen“, aber keine eindeutigen Kriterien für richtiges und falsches Verhalten geben (Friedrichs 1968, S. 113). Populäre Werte in Organisa­tionen sind Nachhaltigkeit, Diversität, Innovativität, Effizienz, Wertschätzung oder Transparenz. Sie sind so abstrakt, dass sie sich problemlos in das Leitbild fast jeder Organisation schreiben lassen (siehe auch Kühl 2022, 246f.).

Im Gegensatz zu Werten bilden Programme eindeutige Kriterien für richtiges oder falsches Erwarten und Handeln (siehe dazu Luhmann 2000, 256ff.). Die Vertriebsziele in einem Unternehmen, das Verfahren zur Ausstellung eines Reisepasses durch eine Verwaltung oder die Beantragung von Reisekosten­erstattung in Universitäten sind so genau spezifiziert, das eindeutig zwischen korrektem und inkorrektem Verhalten unterschieden werden kann. Aufgrund der Programme kann ein Organisationsmitglied, auch bei Berück­sichtigung aller vorhandenen Interpretationsräume, sehr genau erahnen, ob ein Gesetz gebrochen, eine formale Regel der Organisation verletzt oder gegen eine informale Norm verstoßen wurde.

Während Programme personenunabhängig funktionieren, können Rollen immer nur von konkreten Personen ausgeübt werden. Unter einer Rolle versteht man ein Bündel von Erwartungen, die sich an das „Verhalten der Träger von Positionen knüpfen“. Es geht also, so Niklas Luhmann, um Erwartungen, die „ein Mensch ausführen kann“, die „aber nicht auf bestimmte Menschen festgelegt sind“, sondern durch „verschiedene, möglicherweise wechselnde Rollenträger“ wahrgenommen werden (Luhmann 1972, 86f.) Man erwartet von einem Polizisten, dass er – jedenfalls in einer Demokratie – einem zu Hilfe eilt, wenn man von einem Kriminellen bedroht wird. Welcher Polizist das ist, ist für die Erwartungs­bildung egal. Die Erwartung knüpft sich bei Rollen nicht an eine spezifische Person, sondern eben an ein in einer Rolle zusammengefasstes Bündel von Erwartungen.

Von einer Stabilisierung von Verhaltenserwartungen über Rollen lässt sich die Erwartungsbildung über Personen abgrenzen. Wir wissen intuitiv, dass sich das, was wir mit einem Menschen erlebt haben, nicht ohne Weiteres auf Erfahrungen mit einem anderen Individuum übertragen lässt. Um Erwartungssicherheit in Bezug auf Personen entwickeln zu können, müssen wir sie in einer Reihe von Situationen erlebt haben, in der sie sich mit ihren Besonderheiten darstellen konnten. Die Erwartungsstabilisierung über Personenkenntnis spielt natürlich besonders bei Liebespaaren, bei Kleinfamilien und bei Freundschaftsgruppen eine wichtige Rolle. Aber sie wirkt auch in Organisationen. Man erkennt schnell, dass sich Personen auf der gleichen Stelle ganz unterschiedlich verhalten, und die Einschätzung der Persönlichkeit der verschiedenen Stelleninhaber:innen ermöglichen es einem, genauer zu wissen, was man erwarten kann.

Auch in holakratischen Organisationen finden sich unterschiedliche Formen von Erwartungsbildungen. Keine holakratische Organisation verzichtet auf die üblichen Bekenntnisse zu Werten wie Partizipation, Nachhaltigkeit und Achtsamkeit (siehe Robertson 2015, 31ff. oder Robertson 2016, 30ff.). Die Verfassung, die von allen holakratischen Organisationen unterzeichnet werden muss, sind eine Ansammlung von Programmen, mit denen richtiges und falsches Handeln innerhalb der Holacracy bestimmt wird. Rollen werden in dieser Verfassung als zentrales Element holakratischer Organisationen bestimmt und spielen in Form umfassender Stellenbeschreibungen für jedes einzelne Organisationsmitglied eine wichtige Rolle. Aber bei aller Fokussierung auf Rollen lässt sich natürlich auch in holakratischen Organisationen nicht verhindern, dass sich eine Erwartungsbildung über Personen ausbildet.

Wenn man das holakratische Konzept in der denkbar knappsten Form beschreiben will, dann ist es der Traum davon, dass es durch in eine rigide Verfassung gegossene Programme möglich wird, die Verhaltenserwartungen in Organisationen weitestgehend über präzise definierte Rollenerwartungen zu erreichen. Dieser Traum wird seit über hundert Jahren in Organisationen immer wieder geträumt, wird aber in der Holacracy in nahezu idealtypischer Form angestrebt.

Das Buch zum Thema

Schattenorganisation: Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

Zum Verhältnis von Formalität und Informalität

Das Faszinierende an Organisationen ist, dass sich die in Werten, Programmen, Rollen und Personen kristallisierten Erwartungen sowohl in einer formalen als auch in einer informalen Form ausbilden können. Das unterscheidet Organisa­tionen erheblich von Kleinfamilien, Freundesgruppen und Protest­bewegungen, in denen sich diese Aufsplittung nicht finden lässt. Nur in Organisationen findet sich die Trennung zwischen formalen und informalen Erwartungen, weil hier die Mitgliedschaft an die Einhaltung von genau spezifizierten Erwartungen gebunden werden kann.

Deswegen finden sich in Organisationen formal fixierte Werte. Man kann sie in den auf Hochglanz gedruckten Leitbildern der Organisation nachlesen, muss sie als Mitglied auf Abfrage aufsagen und in Werte-Workshops reflektieren können. Im Schatten dieser formal fixierten Werte bilden sich aber auch informale Werte aus. Es sind die Werte, die den Mitarbeiter:innen jenseits der offiziellen Leitbilder wichtig sind. Das Schützen der Kolleginnen und Kollegen, auch wenn sie einmal gegen die Regeln der Organisation verstoßen, das Decken von Nebenaktivitäten in Organisationen oder der Schutz der Mitarbeiter:innen vor Überlastung.

Auch bei Programmen finden sich neben den formalen ebenso informale Programme. Bei den formalen Programmen handelt es sich um die offiziellen Ziele und Regeln der Organisation, wie bestimmte Arbeitsprozesse vorge­nommen werden sollen. Man kann diese formalen Programme in Strategie­papieren, Zielvereinbarungen, Arbeitsanweisungen, Prozesshand­büchern oder Softwareprogrammen der Organisation finden. Unter der formalen Oberfläche bilden sich aber immer auch informale Programme aus, die sich nicht in den Akten finden lassen. Es sind die dezentral entwickelten Ziele von Abteilungen, die nicht mit den übergreifenden Planungen abgestimmt sind, die strategischen Abweichungen, die auf keiner Klausur diskutiert wurden, die bewährten Workarounds, durch die formale Programme angepasst werden sowie die eingespielten Prozesse, die sich in keinen der Handbücher finden lassen.

Bei Rollen denkt man in Organisationen sicherlich erst einmal an die formalen Ausprägungen. Stellenaus- und Stellenbeschreibungen sind klassische Fälle formaler Rollenerwartungen, die in den meisten Fällen aber noch durch formale Spezifikationen und Anweisungen präzisiert werden. Die detaillierten Rollen­beschreibungen in hyperformalisierten Organisationen sind lediglich eine Extremform dieser formalen Darstellungen. Aber neben den formalen Rollen­beschreibungen bilden sich auch informale Rollenbeschreibungen aus: Es existieren schriftlich nicht fixierte Vorstellungen, wie sich Lagerarbeiter:innen, Programmierer:innen, Rekrutierer:innen, Buchhalter:innen oder Ärzte verhalten sollen. Diese Rollenerwartungen können zwar formal nicht eingeklagt werden, aber es existiert ein informaler Druck der Kolleg:innen, sich entsprechend der informalen Rolle zu verhalten.

Im Zusammenhang mit Erwartungen an Personen fällt die Vorstellung einer formalen Fassung erst einmal schwer. Schließlich wird dabei immer eine Person als Ganzes und nicht das Mitglied adressiert. Aber Organisationen legen fest, welche Erwartungen an die Person gerichtet werden können und welche nicht. Es muss mit formalen Notwendigkeiten gerechtfertigt werden, wenn man ein Organisationsmitglied nach persönlichen Macken, schweren Erkrankungen oder mittelfristigen Kinderwünschen befragt. Relevant werden Kenntnisse über Personen bei der Ausbildung informaler Erwartungen. Man weiß, dass selbst in holakratischen Organisationen die einzelnen Rollen durch Personen ausgefüllt werden, die die Rollenausübung mit ihren Eigenarten prägen. Weil sich aber die Bedeutung von Personenerwartung selbst bei einem perfektionierten organisationalen Betriebssystem nicht komplett reduzieren lässt, wird in Organisationen viel Zeit damit zugebracht, Mitglieder auf ihre persönlichen Eigenschaften hin zu scannen, um die eigenen Erwartungen daraufhin auszurichten.

[1] Studierende an der Universität Bielefeld konnten dies lange Zeit an einem Realexperiment von Ernst Wilhelm Wittig – genannt Ernie – beobachten, der regelmäßig nackt durch Bielefeld radelte, unbekleidet zu Seminarveranstal­tungen erschien und nur mit einer Cappy bedeckt ins Fußballstadion ging.

Literatur
Friedrichs, Jürgen (1968): Werte und soziales Handeln. Tübingen: J.C.B. Mohr.
Kaufmann, Jean-Claude (1996): Frauenkörper – Männerblicke. Soziologie des Oben-ohne. Konstanz: UVK.
Kühl, Stefan (2022): Der ganz formale Wahnsinn. 111 Einsichten in die Welt der Organisationen. München: Vahlen.
Luhmann, Niklas (1972): Rechtssoziologie. Reinbek: Rowohlt.
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Opladen: WDV.
Orth, Stephan (2007): 15 Sekunden nackter Wahnsinn. In: Spiegel Geschichte, 22.11.2007.
Robertson, Brian J. (2015): Holacracy. The New Management System for a Rapidly Changing World. New York: Henry Holt.
Robertson, Brian J. (2016): Holacracy. Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. München: Verlag Franz Vahlen.

Autor

Prof. Dr. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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