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Führungsimpulse werden ablehnbar

Was Führung über Distanz schwierig macht – und welche Lösungen es gibt

  • Lars Gaede
  • Donnerstag, 21. Juli 2022
Wie verändert mobile Arbeit führungsmittel

Das „Kann ich kurz reinkommen?“ wurde durch den Link zum Video-Call ersetzt, die zufällige Begegnung durch den Schluss vom Regelmeeting, wenn noch Zeit für freundliche Belanglosigkeiten ist. Mobile Arbeit verändert, wie Interaktionen, also Gespräche in Organisationen entstehen und ablaufen. Das macht das Setzen von Führungsimpulsen deutlich schwieriger.

In unserer Studie „Wie jetzt führen“ haben wir mit über 50 Führungskräften aus unterschiedlichen Unternehmen darüber gesprochen, wie ihre Realitäten des „Homeoffice“ oder der mobilen Arbeit die Organisation verändern. Es ging uns darum, welche formalen Regelungen und welche informalen, teils auch unausgesprochenen Arrangements getroffen wurden.

Eine bemerkenswerte Beobachtung ist für uns, dass mobile Arbeit Führungsimpulse erwartbar, durchschaubar und dadurch abwehrbar werden lässt. Damit verändern sich die Anforderungen an Führung in Organisationen massiv. Doch um diesen Umstand besser zu verstehen, ist erst ein Blick auf unser Verständnis von Führung wichtig.

Führung als erfolgreiche Einflussmaßnahme in kritischen Momenten

Wenn wir uns anschauen, wie in Organisationen Entscheidungen getroffen werden, unterschieden wir zwischen Führung und Hierarchie. Wie Hierarchie funktioniert, bleibt durch die Einführung mobiler Arbeit meistens unverändert. Die meisten Organisationen setzen noch auf dieselben Führungskräfte, verteilt über dieselben Hierarchiestufen und behalten dieselbe Führungsspanne bei. Der von uns eingesetzte organisationssoziologische Begriff von Führung macht es möglich, auch Orientierungsleistungen zu beobachten, die außerhalb der bestehenden Strukturen geschehen. Das ist mit den Worten von Niklas Luhmann ein „diffuses, soziales Geschehen“ – und entsprechend spannend.

Mithilfe der Systemtheorie verstehen wir Führung als erfolgreiche Einflussnahme in kritischen Momenten. Das heißt, es geht um situatives Durchsetzen bei offenen Entscheidungen. Dadurch sieht man nun nicht mehr nur Führungskräfte, die führen. Ebenso können Untergebene für ihre Vorgesetzten in Führung gehen, wenn ihr Handlungsangebot überzeugt. Führung kommt immer dann zum Zuge, wenn die Strukturen einer Organisation entweder keine Lösung für ein Problem vorgeben oder die Regeln zu widersprüchlich sind. Führung springt also in die Regelungslücken der Organisation.

Um in diesen kritischen Situationen oder Anlässen zur Führung erfolgreich Einfluss zu nehmen, brauchen die Akteur:innen nun Führungsmittel. Viele davon sind auch außerhalb von hierarchischen Positionen verfügbar. Was zu einem Führungsmittel werden kann und was nicht, ist sehr spezifisch für die jeweilige Organisation und Einheit. Generell kann alles in einer in Organisation zu einem Führungsmittel werden, was eine begehrte und knappe Ressource darstellt: Etwa finanzielles Budget, fähiges Personal oder Zeit. Aber auch Expertise, der Zugriff auf ein Netzwerk oder ein offener kollegialer Gefallen können zu einem Führungsmittel werden.

Als Führungsmittel von besonderer Bedeutung haben wir in unserer Studie Vertrauen und persönliche Achtung identifiziert. Was diese auszeichnet und welche Kosten ihr Einsatz mit sich bringt, haben wir gesondert diskutiert:

Folgen mobiler Arbeit

Wie Homeoffice zu mehr Beziehungsarbeit führt

Dass es Führung ohne Hierarchie gibt, heißt im Übrigen nicht, dass hierarchisch hohe Posten für Führung irrelevant sind. Vorgesetzt sein ist gewissermaßen eine Garantie, dass man Gefolgschaft erwarten darf. Doch ist die pure Macht der Hierarchie ein grobes und unsicheres Werkzeug, dessen Einsatz sich abnutzt. Wer immer wieder betonen muss, wer hier Chef:in ist, befindet sich erfahrungsgemäß bereits mitten in einer Führungskrise.  

Spontane Gespräche verlieren, Routine-Termine gewinnen

Was uns berichtet wurde in unseren Interviews ist, dass bei mobiler Arbeit die gewohnten Formen der Führungsimpulse rar gesät sind. Das trifft insbesondere auf das spontane, oder das als Zufall getarnte Gespräch zu. ‚Spontane‘ Gespräche, also die gut geplanten, die durch Anwesenheit zur richtigen Zeit am richtigen Ort, entstehen, haben keine Tops, die vorab einsehbar sind. Man kann selbst gut vorbereitet sein und darauf hoffen, die Situation im eigenen Sinne zu gestalten – und zu führen.

Für manche Führungskräfte, die den Streifzug durchs Büro als Teil ihres Stils pflegten, ist der Verlust dieser Gespräche eine besondere Herausforderung. Denn muss erst ein Termin vereinbart werden, verändert sich die Situationsbeschreibung. „Das macht die Situation wesentlich formaler, als sie früher gewesen ist“, beschreibt uns eine Führungskraft im mittleren Management. „Wenn ich früher kurz in ein Büro geschaut habe, um zu fragen, wie es so läuft, war das ein lockeres Gespräch.“ Mit gesetztem Anlass fehle nun die Leichtgängigkeit.

Man versorgt sich mit Führungsanlässen

Als Möglichkeit damit umzugehen, kristallisieren sich in vielen Organisationen Regeltermine heraus. Regelmäßig trifft man das Team oder einzelne Teammitglieder zum Stand-Up, Daily, oder, ganz trocken „zum Wochenbericht“. Das ist zwar kein spontanes Treffen, aber der offene Anlass und die Regelmäßigkeit lässt unterschiedliche Themen zu. Soziologisch betrachtet sind Regeltermine in erster Linie Führungsanlässe. Wenn Mitglieder schildern, woran sie gerade mit Priorität arbeiten, können andere intervenieren und andere Prioritäten vorschlagen. Teamleitungen können die Ziele der nächsten Wochen beschreiben und abprüfen, ob es andere Meinungen gibt.

Welche Führungsmittel dabei zum Einsatz kommen, kann situativ und personenabhängig verschieden sein. Für viele der von uns befragten Führungskräfte scheint bereits das Einberufen des jeweiligen Regeltermins zum Führungsmittel geworden zu sein. Dies liegt wahrscheinlich an der Interaktionslogik solcher Termine. Routineberichte bringen diejenigen, denen berichtet wird, eher in die Führungsposition: Ihr Urteil entscheidet darüber, ob es tatsächlich „weiter so“ heißt, oder über Änderungen diskutiert werden muss.

Wer es in den Kalender schafft, kann die Agenda setzen

Wo die Routinetreffen nicht reichen, braucht es ein anderes Werkzeug. Das ist meistens: Der offene Kalender. Das Definieren eines Gesprächsthemas und des Anlasses, dass es besprochen werden muss, wird durch den Termin im Kalender erschaffen. Das Prinzip ist simpel: „Wer ein Thema hat, der setzt den Termin“, so die übliche Beschreibung. Damit ist zwar nicht gesetzt, dass sich das Thema auch im Sinne desjenigen auflöst, der den Termin einstellt. Jedoch hat man durch die Kontrolle der Agenda auch die Möglichkeit, besser vorbereitet zu sein und kann typische Techniken der „Unterwachung“ einsetzen. Dazu gehört etwa, nicht nur das Problem, sondern direkt auch für die eigene Situation gefällige Lösungen zu präsentieren. Die jeweilige Führungskraft muss dann nur noch wählen, welche es sein soll.

Dieses Mittel funktioniert anscheinend sehr effektiv – so effektiv sogar, dass sich viele unserer Interviewpartner:innen halb im Ernst, halb im Scherz als fremdgelenkte Wesen beschrieben, die über ihren Kalender von Termin zu Termin geschoben werden.

Wo Führung Planung erfordert, wird sie abwehrbar

Wenn Anlasslosigkeit und spontane Begegnung an Bedeutung verlieren, geplante Interaktionen ihren Platz einnehmen – welche Folgen hat das für die Organisation? Für uns ist eine Entwicklung eindeutig: Auf geplante Führungsimpulse kann man sich besser vorbereiten. Alle Seiten können ihre Argumente schleifen und die Wahrscheinlichkeit, Situationen gut ausspielen zu können, sinkt. Hinzu kommt: Der Anlass zur Führung muss überhaupt erst entstehen. Damit ein Termin als Führungschance genutzt werden kann, muss er auch angenommen werden.

Nun werden Mitarbeitende selten ihre Führungskräfte aus ihrem Kalender ausladen, dafür bedarf es schon besonderer Legitimation. Aber Versuche der Unterwachung, also der Orientierung der Führungskräfte durch ihre Mitarbeitenden, sowie die Anzeige von Führungsbedarf müssen durch das Nadelöhr des Kalendereintrags.

Gegebenenfalls kann die Notwendigkeit des Kalendereintrags die Führungschance also sogar verringern, weil das Anliegen schon vorher explizit gemacht werden muss. Was nur vage beschrieben ist, oder für das in der Hierarchie höher befindliche Mitglied ein Thema von geringerer Dringlichkeit darstellt, wird vermutlich der Aufmerksamkeitsökonomie zum Opfer fallen. Mitarbeitende haben weniger die Chance, als mehr die Pflicht, die Agenda zu setzen und vorher klarzustellen, dass ihr Thema dringend ist. Damit geht auch die Überraschung verloren, die unter Umständen den kritischen Moment und das Einfädeln einer Entscheidung erst ermöglicht.

Organisationen droht ein unsichtbares Führungsdefizit

Diese Entwicklung macht in Organisationen ein unsichtbares Führungsdefizit möglich, das sich auf zwei Weisen äußern kann: Zuerst bei Mitarbeitenden, die Führungsbedarf haben, aber nicht damit erfolgreich sind, diesen anzuzeigen. Der erhöhte Aufwand, der für die Herstellung eines Gesprächs geleistet werden muss, verbunden mit der erlebten Dichte der Kalender, kann die Betrachtung der eigenen Probleme in andere Verhältnisse rücken. Wenn man zusätzlich davon ausgehen muss, dass nur das zu einem Termin wird, was vorher mit Dringlichkeit stark genug markiert worden ist, warten Mitarbeitende mitunter länger damit, ihren Führungsbedarf anzuzeigen, als sie selbst für richtig empfinden.

Zweitens können Führungskräfte Bedarf nach Orientierung haben, ohne dass sie es merken. Vorgesetzte zu führen ist eine mitunter delikate Angelegenheit, bei der es wichtig ist, die jeweilige Selbstdarstellung nicht anzukratzen. Mitunter werden Mitarbeitende darauf verzichten, Führungsimpulse die Hierarchie aufwärts zu schicken, nämlich wenn ihnen die Möglichkeiten der Risikovermeidung fehlen. Dazu gehört etwa das informale Gespräch, indem man sich langsam zum eigentlichen Problem vortastet und auf dem Weg versucht, die Stimmung einzuschätzen.

Führungskräfte müssen auf ihre blinden Flecken schauen

Wenn Mitglieder sich entscheiden müssen, ob sie eine persönliche Initiative ins Ungewisse starten oder lieber abwarten wollen, ob nicht jemand anders das Problem anspricht, wird es in Organisationen oft sehr still. Für Führungskräfte klingt diese womöglich resignierte oder von Zynismus getränkte Stille leider oft wie geschäftige Stille, die keine Fragen aufkommen lässt. Und mit Blick auf ihre Kalender, die sie durch den Tag steuern, kann man auch nur Verständnis haben, wenn diese die Erwartung (oder auch: Hoffnung!) ausbilden, dass sich schon selbst melden wird, wer etwas braucht.

Leider gibt es kein allgemeingültiges Heilmittel gegen diese Entwicklung. Je nach Situation in Organisation und Team wird etwas anderes helfen: vielleicht ein Routinetermin für alles außer Alltagsfragen, vielleicht aber auch das Gegenteil: Mehr unverplante Zeit im Kalender für Führungskräfte. Wichtig ist nur, dass sie Raum für die ungewöhnliche Frage haben: Was sehe ich gerade nicht?

Autor

Lars Gaede

verwendet seine journalistische Trickkiste jetzt mit Vorliebe, um Organisationen zu durchleuchten.

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