Drei Stoßrichtungen der Kritik am bürokratischen Organisationsmodell
Die Kritik am klassischen bürokratischen Organisationsmodell ist im Wesentlichen durch drei Stoßrichtungen gekennzeichnet: Erstens wird kritisiert, dass sich Abteilungen voneinander abschotten und deswegen jede Abteilung nur ihrer eigenen Logik folge. Weil die Mitarbeiter:innen in der Regel nur Mitglied einer Abteilung und stark durch deren Ziele geprägt werden, hätten sie lediglich eine stark verengte Sichtweise auf die Organisation (siehe zum Effekt Cyert und March 1963, 164ff.). Zweitens wird herausgestellt, dass die Hierarchie zu Informations- und Motivationsverlusten führe. Mitarbeiter:innen weiter unten in der hierarchischen Pyramide bekämen nicht die nötigen Informationen, um ihre Aufgaben mit der nötigen Sorgfalt durchzuführen. Mitarbeiter:innen weiter oben würden von ihren Untergebenen nicht mit kritischen Informationen versorgt werden, weil die Angst bestünde, als Überbringer schlechter Nachrichten verantwortlich gemacht zu werden. Drittens wird kritisiert, dass Organisationen aufgrund einer zu starken Formalisierung an einer bürokratischen Überregulierung zu ersticken drohen. Um die Arbeit zwischen den Abteilungen zu koordinieren und die Kontrolle durch die Hierarchie zu gewährleisten, würde eine Vielzahl von Verhaltenserwartungen an die Mitarbeiter:innen gestellt, die häufig nicht den Anforderungen der Organisation entsprechen würde.
Der Ansatz postbürokratischer Konzepte
Postbürokratische Organisationskonzepte setzen an dieser Stelle an und versprechen Lösungen, um die Probleme einer Abgrenzung der Abteilungen gegeneinander zu reduzieren, um die durch die Hierarchie bedingten Informations- und Motivationsverluste zu verhindern und schließlich um Überbürokratisierung durch eine Vielzahl von Vorschriften zu vermeiden. Experimentiert wird etwa damit, Mitarbeiter:innen statt in starren Abteilungen in wechselnden Zusammensetzungen zusammenarbeiten zu lassen, Hierarchien abzuflachen, sodass die Verantwortung auf einige wenige Hierarchiestufen verteilt werden kann, die jeweils nur von wenigen Vorgesetzten mit sehr weiten Führungspannen geführt werden, und die Anzahl an formalen Regeln dadurch zu reduzieren, dass es Mitarbeiter:innen selbst überlassen wird, in welcher Form sie die vorgegebenen oder auch selbstgesetzten Ziele erreichen wollen.
Von Abteilungen zu Kreisen
Im klassisch-bürokratischen Organisationsmodell, das sich in Unternehmen, Verwaltungen, Polizeien und Krankenhäusern spätestens seit dem 19. Jahrhundert durchgesetzt hat, spielt die Aufgliederung in Abteilungen eine zentrale Rolle. Dabei werden verschiedene Aufgabenfelder gebildet, die jeweils durch eine Abteilung – je nach Größe auch Bereich, Division, Segment oder Team genannt – bearbeitet werden. Die Mitarbeiter:innen werden jeweils nur einer Abteilung zugeordnet, sodass sie sich zusammen mit ihren Kolleg:innen in der Abteilung auf eine genau spezifizierte Aufgabe konzentrieren können (siehe dazu Heckscher 1994, S. 20). Der Vorteil der Aufgliederung einer Organisation in Abteilungen besteht darin, dass so die häufig widersprüchlichen Anforderungen aus der Umwelt in spezialisierten Abteilungen getrennt bearbeitet werden können (siehe dazu Starbuck 1988, S. 67). Die Aufgliederung ermöglicht Anforderungen in einzelnen Abteilungen stabil zu halten, auch wenn sich andere ändern (so zum Beispiel Luhmann 1964, 306f.). Das ermöglicht der Organisation punktuelle Anpassungen bei gleichzeitiger Stabilisierung des Restes.
Die Bildung von Abteilungen als ein Zentralprinzip von Organisationen bringt jedoch eine Reihe von ungewollten Nebenfolgen mit sich. Die Abteilungen sind, so die Kritik, zwar „zu-ständig“, aber gleichzeitig auch „ständig zu“ (so die Formulierung von Fuchs 1992, S. 20). Die Abteilungen könnten „sich wechselseitig nicht durchschauen, nicht exakt und sicher berechnen“ (Luhmann 1981, S. 50). Die Zuweisung auf eine Abteilung führt zwangsläufig zu einer Verengung der Perspektiven, weil Mitarbeiter:innen immer nur die Aufgabe ihres eigenen Bereichs ins Blickfeld nehmen. Das Verständnis für die Anforderungen der gesamten Organisation oder anderer Abteilungen geht weitgehend verloren (so auch die Beobachtung von Luhmann 1964, 308f.). Im Extremfall würde das Arbeitsergebnis einer Abteilung lediglich über die Mauer zur nächsten Abteilung geworfen und keine Rücksicht darauf genommen werden, ob diese mit den Arbeitsergebnissen etwas anfangen kann.
Im holakratischen Organisationsmodell wird versucht, diese Probleme dadurch zu vermeiden, dass Abteilungen durch Kreise ersetzt werden. Dabei handelt es sich um weit mehr als nur die populäre Umbenennung von Abteilungen in Tribes oder von Teams in Squads. Anders als bei Abteilungen werden Kreisen nicht Personen mit all ihren organisationsspezifischen Rollenbezügen zugeordnet, sondern lediglich die von Personen entkoppelten Rollen. Diese Rollen werden in den Kreisen zwar durch Personen ausgefüllt, nach dem holakratischen Grundverständnis können Personen jedoch unterschiedliche Rollen in verschiedensten Kreisen einnehmen und jede dieser einzelnen Rollen auf eigenes Bestreben hin auch wieder aufgeben. Dadurch soll die Anbindung einer Person an lediglich eine einzelne Abteilung aufgehoben und somit die Perspektivverengung der Mitarbeiter:innen auf die Rationalität einer einzelnen Abteilung vermieden werden.
Aufweichung der Hierarchie
Hierarchien bilden sich in Organisationen aus, wenn die Akzeptanz von Weisungsbefugnissen zur Mitgliedschaftsbedingung gemacht wird. Führung erfolgt nicht mehr situativ, abhängig von Kompetenzen einzelner Personen, sondern Mitarbeiter:innen werden über einen längeren Zeitraum eindeutig einer Führungskraft untergeordnet, die für die Zuweisung von Aufgaben zuständig ist (siehe zu Hierarchien als Sonderfall von Führung Luhmann 1964, 208ff.). Hierarchien stellen in Organisationen also immer gleichzeitig ein Verhältnis von Ungleichheit – nämlich zwischen Vorgesetzten und Untergebenen – und Gleichheit – nämlich zwischen Kolleg:innen auf der gleichen Hierarchieebene – her (siehe dazu Luhmann 1965, S. 172). Durch die hierarchische Anordnung von Weisungsgebern und Weisungsempfängern ist es möglich, innerhalb von Organisationen mit vergleichsweise geringen Verhandlungskosten verhältnismäßig schnell relativ eindeutige Entscheidungen herzustellen. Durch Hierarchien kann die Unsicherheit in Organisationen stark reduziert werden, da Vorgesetzte eine „Flaschenhalsfunktion“ erfüllen. Sie filtern für ihre Mitarbeiter:innen die Informationen von oben entsprechend ihres Relevanzgrades und kondensieren gleichzeitig für ihre eigenen Vorgesetzten die Informationen von unten (Luhmann 1964, 210f.).
Aber genau in dieser Filterung von Informationen durch eine Vielzahl in der Hierarchie verankerter Flaschenhälse liegt eine zentrale Schwäche der Hierarchie. Einerseits fällt in Organisationen ein Großteil der für Entscheidungen relevanten Informationen nicht an der Spitze der Organisation an, sodass Vorgesetzte trotz IT-gestützten Managementinformationssystemen permanent beklagen, dass sie nur unzureichend mit Informationen versorgt werden. Andererseits beschweren sich die Mitarbeiter:innen darüber, dass sie von oben keine ausreichenden Informationen bekommen, um ihre Aufgaben befriedigend zu erledigen. Die Folge ist, dass „Entscheidungen auf einem fernen Olymp getroffen“ werden, die auf „dem Boden der Tatsachen nicht umsetzbar“ sind (so die Klage von Hamel 2011, die auch von den Holakraten regelmäßig wiederholt wird; hier zitiert nach Robertson 2016, S. 18). Häufig hat dies eine Abnahme der Leistungsmotivation zur Folge. Mitglieder würden sich in der durch die Hierarchie als fremdbestimmten Organisation einrichten und dabei immer mehr den Anspruch an ihre eigene Weiterentwicklung in der Organisation aufgeben. Die hilflose Reaktion der Vorgesetzten auf diese einsetzende innere Kündigung bestände dann darin, den Druck weiter zu erhöhen.
In der Holacracy wird zwar das hierarchische Prinzip zur Strukturierung der Organisation nicht komplett aufgegeben, jedoch an einigen zentralen Stellen erheblich aufgeweicht. Es existiert nach Vorstellung der Holakraten – und dieser Gedanke ist zentral – keine personengebundene hierarchische Führung mehr, in der Vorgesetzte den ihnen zugeordneten Mitarbeiter:innen Anweisungen geben können. Stattdessen gibt es in jedem Kreis nur noch die vom übergeordneten Kreis eingesetzte Person in einer Führungsgliedrolle – den sogenannten Lead Link. Dieser Führungsgliedrolle gibt nur noch das Recht, innerhalb des Kreises Rollen zu besetzen. Der Rollenzuschnitt wird dabei nicht vom Lead Link selbst vorgenommen, sondern im Kreis gemeinsam festgelegt. So ist die einzige formale Machtquelle, über die ein Lead Link verfügt, die Möglichkeit, eine Person von einer Rolle zu entfernen und durch eine andere zu ersetzen. Der Effekt der Aufhebung der personalen Zuweisung eines Mitarbeiters zu einem spezifischen Vorgesetzen kann darin liegen, dass eine Mitarbeiterin in einem Kreis Lead Link eines Mitarbeiters ist und ihm eine Rolle zuweisen oder abnehmen kann, der ihr aber wiederum in einem anderen Kreis, in dem er Lead Link ist, eine Rolle zuweisen oder abnehmen kann.
Die Modifikation der Formalisierung
Im klassisch-bürokratischen Organisationsmodell ist die Formalisierung ein zentraler Mechanismus zur Koordination der Organisationsmitglieder. Bei der Formalisierung handelt es sich – systemtheoretisch kompliziert, aber präzise formuliert – um die Verknüpfung der in Organisationen relevanten Erwartungen mit der Entscheidung über die Mitgliedschaft. Einfach ausgedrückt – wenn man Mitglied einer Organisation werden oder bleiben will, muss man das tun, was die Organisation von einem erwartet. Der Effekt in Organisationen ist simpel, aber folgereich. Das auffällig hohe Maß an Konformität innerhalb einer Organisation wird darüber hergestellt, dass die Mitgliedschaft innerhalb der Organisation davon abhängt, die formalen Erwartungen der Organisation zu erfüllen (Luhmann 1964, S. 38). Das ermöglicht, dass sich in Organisationen – nicht zuletzt im Hinblick auf die Zuordnung zu Abteilungen und die Einordnung in Hierarchien – relativ feste wechselseitige Verhaltenserwartungen ausbilden (Luhmann 1964, S. 34). Ergebnis ist ein in der Regel auffällig engmaschiges, schriftlich fixiertes Netz formaler Erwartungen. Dieses engmaschige, schriftlich fixierte Netz formaler Erwartungen wird klassischer Weise mit dem Begriff der Bürokratie bezeichnet.
Aber genau dieses eng fixierte Netz formaler Erwartungen bringt in Organisationen eine ganze Reihe von Nachteilen in Form von Rigidität mit sich (siehe als frühen Klassiker der Bürokratiekritik besonders Merton 1957). In stark formalisierten Organisationen würde, so die Kritik, umständlich miteinander kommuniziert werden. Alles müsste über die Dienstwege besprochen werden. Aufgrund der Kommunikationsprobleme käme es immer wieder zu Doppelarbeit an verschiedenen Stellen der Organisation. Das Regelwerk würde in mikropolitischen Konflikten missbraucht. Die Anpassung an Umweltveränderungen fände nur zeitverzögert statt. Funktionslose Stellen würden nicht aufgelöst werden, sondern fortbestehen.
Interessanterweise wird das Prinzip der Formalisierung – anders als die Prinzipien der Abteilungen und der Hierarchien – im holakratischen Organisationsmodell nicht aufgeweicht. Im Gegenteil – jede Übernahme einer Rolle, jede Zuordnung zu einem Kreis, jede noch so kleine Verschiebung von Zuständigkeit wird in der holakratischen Steuerungssoftware der Organisation für alle sichtbar formal fixiert. Dadurch entstehen auffällig detaillierte Rollenbeschreibungen. In diesem Punkt liegt der zentrale Unterschied des holakratischen Organisationsmodells zu anderen postbürokratischen Organisationsmodellen, in denen neben der Aufweichung der Grenzen zwischen den Abteilungen und der Reduzierung der Hierarchie zusätzlich auf eine Entformalisierung der Erwartungen bei gleichzeitiger Ausbildung von informalen Erwartungen gesetzt wird.
Der Clou der Holacracy liegt also darin, dass die über eine ausführliche Verfassung abgesicherte Hyperformalisierung der Organisation einen Rückfall in die klassische personal gebundene Hierarchie und übliche Silobildung von Abteilungen verhindert (siehe dazu auch Robertson 2014, S. 7). Von Friedrich Hayek stammt die Formulierung, dass eine Verfassung eine Bindung sei, die Peter im nüchternen Zustand für den Fall eingeht, dass er einmal besoffen ist (Hayek 1960, S. 180).[1] Ähnlich kann man eine holakratische Verfassung als eine Selbstbindung der Firmenchefin verstehen, die sie im ruhigen Zustand trifft, um sie daran zu hindern, hierarchisch zu reagieren, wenn es einmal in der Organisation unruhig wird.
[1] Im Original: „A constitution is a tie imposed by Peter when sober on Peter when drunk”( Hayek 1960, S. 180).
Literatur
Cyert, Richard M.; March, James G. (1963): A Behavorial Theory of the Firm. Englewood Cliffs: Prentice-Hall.
Fuchs, Jürgen (1992): Das Unternehmen lebender Organismus oder tote Institution. In: Jürgen Fuchs (Hg.): Das biokybernetische Modell. Wiesbaden: Gabler, S. 13–74.
Hamel, Gary (2011): First, Let’s Fire All the Managers. In: Harvard Business Review 89 (12), S. 48–60.
Hayek, Friedrich A. von (1960): The Constitution of Liberty. Chicago: University of Chicago Press.
Heckscher, Charles (1994): Defining the Post-Bureaucratic Type. In: Charles Heckscher und Anne Donnellon (Hg.): The Post Bureacratic Organization: New Perspectives on Organizational Change. Thousand Oaks: Sage, S. 14–62.
Luhmann, Niklas (1964): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot.
Luhmann, Niklas (1981): Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat. München, Wien: Olzog.
Merton, Robert K. (1957): Bureaucratic Structure and Personality. In: Robert K. Merton (Hg.): Social Theory and Social Structure. 2. Aufl. Glencoe: Free Press, S. 195–206.
Robertson, Brian J. (2014): History of Holacracy. Online verfügbar unter https://blog.holacracy.org/history-of-holacracy-c7a8489f8eca.
Robertson, Brian J. (2016): Holacracy. Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt. München: Verlag Franz Vahlen.
Starbuck, William H. (1988): Surmounting Our Human Limitations. In: Robert E. Quinn und Kim S. Cameron (Hg.): Paradox and Transformation. Toward a Theory of Change in Organization and Management. Cambridge: Ballinger, S. 65–80.