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Holacracy

Schattenorganisation: Eine Rezension von Agnes Jany

  • Mittwoch, 10. Mai 2023
Schattenorganisation
© ronstik

„Schattenorganisation“ erklärt die Intentionen und Strukturen von holakratischen Organisationsmodellen – und kann in der Analyse eine gewisse Schadenfreude nicht unterdrücken, wenn die Intentionen nicht erreicht werden. Ein lesenswertes Buch – das aber der Versuchung erliegt, Agilität präzise zu definieren und eine überraschende Lücke zeigt bezüglich einer Beantwortung der aufgeworfenen Frage, was jetzt eigentlich zu viel Bürokratisierung ist, findet Agnes Jany.

Wie viel hat der von Stefan Kühl genutzte Begriff von agiler Organisation mit dem zu tun, was im agilen Manifest als agil beschrieben wurde?

Stefan Kühls Buch beginnt mit der persönlichen Erklärung, er möchte seine Faszination über Hyperformalisierung in der Holacracy teilen. Und, er teilt mit uns als Lesende ein Eingeständnis: Dass er zwischenzeitlich zu voreilige Schlüsse über agile Organisationen getroffen hat, und sich diesen erst nach Gegenwind bewusst wurde.

Ein Verständnis von Agilität, dem der Bezug fehlt

Entsprechend irritierend ist es aber, wenn man sich als Praktiker:in weiter durch das Buch bewegt und über ein Verständnis von Agilität liest, das im Alltag wenig Bezugsfläche bietet. Da heißt es etwa, agile Organisationen hätten den Abbau von Hierarchie und die Aufweichung von Abteilungsgrenzen zum Ziel. Hier fragt man sich: Wie kommt er darauf? Dies lässt sich nicht aus dem agilen Manifest ableiten und eine allgemeingültige Definition der agilen Organisation existiert schlicht nicht. Man kann in einer Organisation nur die Individuen befragen, wie sehr das agile Manifest eingehalten wird; was auch mit Abteilungen und Hierarchie denkbar ist.

Aus „Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge“ folgt nur, dass ausschließlich nützliche und gesetzlich vorgeschriebene Prozesse und Werkzeuge zum Einsatz kommen. Ein Team kann für sich einen sehr aufwendigen monatlichen Planungsprozess mit stundengenauen Aufwands- und Verfügbarkeitsschätzungen als nützlich erachten, weil es sich sonst hoffnungslos überplant. Auch später wird auf die agile Softwareentwicklung referenziert, in der angeblich ein Facilitator über das Einhalten von Interaktions­regeln wacht. Das klingt sehr nach Scrum, doch Scrum oder irgendein Facilitator sind nur eine von vielen Möglichkeiten sich nach dem agilen Manifest und den Prinzipien zu richten. 

Zu extrem ist außerdem die Aussage im Buch, dass agile Programmiermethoden nur von Woche zu Woche planen und dies eine Leitidee für eine agile Organisation wäre. Aus den Prinzipien zum agilen Manifest heißt es „Liefere funktionierende Software regelmäßig innerhalb weniger Wochen oder Monate und bevorzuge dabei die kürzere Zeitspanne.“ 

Einführung in die Holacracy und Formalisierungs­wellen 

Glücklicherweise hat dieses am Ursprung vorbei gehende Verständnis von Agilität keine Wirkung auf die Schlussfolgerungen zum betrachteten Gegenstand, das holakratische Organisationsmodell. Lesende lernen zuerst Gerüst und Funktionsweise der Holacracy kennen, ohne dabei überfordert oder gelangweilt zu werden. Wer keine oder lange zurück liegende Vorkenntnisse hat, erhält alle notwendigen Informationen, um sich selbst einen groben Eindruck zu verschaffen und die späteren Schlussfolgerungen zu verstehen. 

Interessant sind dabei die geschichtliche Einordnung und die Vergleiche zu früheren sich ähnelnden Konzepten. Die Geschichte wird als hin und her zwischen mehr und weniger Hierarchie, Abteilungsgrenzen und Formalität zusammengefasst. Eine Bewertung eben dieser Wechsel wäre interessant gewesen. Leider nicht erwähnt werden Organisationen, die in verschiedenen Einheiten ganz unterschiedliche Konzepte erlauben. Bei seinen Beschreibungen der Holacracy geht Stefan Kühl auch auf seine Eindrücke über Praktiker:innen ein. Überraschend und für mich nicht nachvollziehbar ist dabei die Einschätzung, man würde nicht zwischen Werten und Zwecken unterscheiden oder glauben, aus den Werten ergeben sich die Zwecke. Dabei sind in der agilen Welt Objectives und Key Results ein Kassenschlager und an sich keine sonderlich neue Praktik.

Eine Analyse in triumphierendem Ton

Manchen Lesenden werden an einigen Stellen schon erste Zweifel an der Funktionstüchtigkeit der Holacracy gekommen sein. Die Nebenfolgen der Holacracy werden gut nachvollziehbar beschrieben. Es entsteht jedoch der Eindruck, als gäbe es diese Probleme in weniger bürokratischen Organisationen nicht. Das Kernstück des Buches befasst sich mit der zentralen Nebenfolge: den Schattenstrukturen als informaler Korrekturmechanismus. Diese Analyse wird wieder von gut verständlich strukturierten Beobachtungen und Schlussfolgerungen begleitet. Es wirkt fast schon triumphal, wie Stefan Kühl hier schließlich zeigt, dass die Holacracy leider doch genau das hervorbringt, was sie zu bekämpfen versucht; Hierarchien und Abteilungen. Demnach gibt es immer eine Machtstruktur, die von den Eigentümer:innen ausstrahlt. 

Hier stellt sich mir die Frage: Was ist die Neuigkeit? Meiner Beobachtung nach, bilden sich immer Schattenorganisationen in der Gunst einzelner hochrangiger Personen. In flachen Hierarchien genau wie in Strukturen, in denen Hierarchien ganz offen und bewusst gelebt werden. 

Obligatorische Kritik an Beratung und Management­moden 

Für Bücher, die sich kritisch mit Managementmoden auseinandersetzen, gehört es zum guten Ton dem Beratungsgeschäft die Leviten zu lesen. Dazu ist das letzte Kapitel dem Lebenszyklus von Managementmoden gewidmet. Von Beratungen enttäuschte Firmen und deren Mitarbeitende werden diesen Teil mit Genugtuung lesen. Beratende werden nichts davon anzweifeln und eher müde lächeln. Schließlich lässt sich kaum beantworten: Verlangen Organisationen nach immer neuen innovativen Antworten von Beratenden? Oder treiben Beratungen Organisationen vor sich her, mit der Angst nicht mehr mitzuhalten?

Abschließend und wieder versöhnend gibt der Autor zu bedenken, dass trotz der Unzulänglichkeiten der Managementmoden, auch Positives in ihnen steckt. Organisationen setzen sich damit immer wieder auf den Prüfstand und passen sich an. 

Im Nachwort zur Methodik mag es für einige Beratende überraschend sein, dass die Einblicke des Wissenschaftlers in die untersuchten Organisationen durch recht wenige Interviews und Beobachtungen erlangt wurden. Es ist davon auszugehen, dass ein Forscher in einer Organisation weit weniger als Störung oder Bedrohung empfunden wird als Beratende und daher mehr ehrliche Einblicke erhält. Beratende, die bspw. als Agile Coaches eingesetzt werden und dabei aktiv in der Organisation nicht nur mitgestalten, sondern auch zumindest temporär mitarbeiten, erhalten deutlich mehr Einsicht in die formalen und vor allem informalen Mechanismen. Die Beobachtungen von Stefan Kühl bringen jedoch bereits ein so deutliches Bild zur Holacracy hervor, dass scheinbar weitere Interviews und Einsichten nicht nötig waren. 

Fazit

Es mag für Stefan Kühl vielleicht überraschend sein, dass seine Erkenntnis für Praktiker:innen nicht neu ist. Sie ist aber ein Tabu. Beratende werden häufig damit beauftragt, für bessere Zusammenarbeit innerhalb von Teams und hierarchieübergreifend zu sorgen. Mitarbeitende sollen sich wohlfühlen mit Psychological Safety, Netzwerk statt Hierarchie und einfühlsamen Führungs­kräften. Während das gute Ansätze sind, bleibt der heiße Brei unausgesprochen: das Streben nach Status und Macht; für manche Menschen gleichbedeutend mit ihrem Selbstwert. Dieses Streben wird einerseits durch Leistung gelebt, andererseits auch durch geschickte Bekanntschaften. Diese Bekanntschaften kann man als gutes Networking, Seilschaften oder als Schattenorganisation bezeichnen. 

Anders als von Stefan Kühl erwähnt, suchen meiner Beobachtung nach Beratungen und Organisationen nicht nach der einen perfekten Organisationsstruktur, sondern nach einer, die ihnen das Leben für einen gewissen Zeitraum am einfachsten macht. Dabei sind einige Organisationen experimentierfreudiger als andere.

Besonders interessant in diesem Buch ist, wie die Fähigkeit zum Wechsel zwischen Formalität und Informalität als wichtige Kompetenz in einer Organisation angesehen wird. Es erinnert an das Dual Operating System von John Kotter mit dem Unterschied, dass Kotter im informellen Netzwerk keine Hierarchie erkennt. Er beschreibt, wie kleine Start-Ups im Wachstum ihre agile informelle Arbeitsweise immer mehr gegen formale Hierarchien tauschen. Seiner Beobachtung nach sind Organisationen genau dann besonders anpassungsfähig, wenn sie beides gleichzeitig bewusst nutzen: die formelle Hierarchie und das informelle Netzwerk. Anders als Stefan Kühl erkennt er allerdings nicht, dass dieses Netzwerk an Bekanntschaften wiederum eine informelle Hierarchie darstellt. Letztlich brauchen demnach Organisations­mitglieder ein gutes Bewusstsein für ihre urmenschlichen Sozialgefüge im Kontrast zur formellen Organisation.

Für Praktiker:innen wünschenswert wäre ein Vorschlag gewesen, wie man den Grad der Bürokratisierung messen kann. Zwar wird erklärt, dass mit der Formalisierung Erwartungen an die Mitglieder der Organisation festgelegt werden, jedoch nicht ab wann diese Formalisierung gering oder extrem ist. 

Insgesamt ein sehr lesenswertes Buch, das Praktiker:innen neue Perspektiven aufzeigt. Es bestärkt sie darin, mit Kunden möglichst experimentell nach passenden Strukturen zu forschen und ermahnt zur Beachtung informeller Hierarchien. 

Das Buch zum Thema

Schattenorganisation: Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

Autorin