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Interview

Können Organisationen sich neu erfinden?

  • Judith Muster
  • Mittwoch, 18. Mai 2022
Können sich Organisationen neu erfinden?
© Nataliya Vaitkevich

Was macht den soziologischen Blick auf Organisationen und ihre Zwecke aus? Warum ist es schwierig für zum Beispiel ein Unternehmen, sich neu zu erfinden? Was kann man unter dem Begriff überhaupt verstehen? Judith Muster spricht über ihre wissenschaftliche und beratende Pers­pektive auf Neuerfindung in Organisationen. Das Interview führte Judith Reker.

Frau Muster, bevor wir über Neuerfindung sprechen: Können Sie kurz umreißen, was für eine Perspektive die Organisationssoziologie auf Unternehmen einnimmt?

Die Organisationssoziologie ist ungefähr im Raum zwischen der Organisations­psychologie und der Betriebswirtschaftslehre angesiedelt. Die Betriebs­wirtschaftslehre beschreibt Organisationen immer so, wie sie möglichst sein sollen, damit sie effizient und wirtschaftlich sinnvoll funktionieren. Die Psychologie blickt auf den einzelnen Menschen. Wir dagegen schauen uns das faktische Verhalten in Organisationen an und begreifen Organisationen als soziale Systeme, die ganz besondere Eigenlogiken haben und ein Eigenleben entwickeln.

Auf diese Art können wir Dinge benennen, die etwa von der Betriebswirtschafts­lehre nicht mit beschrieben werden können, weil sie als Fehler des Organisierens begriffen würden. Zum Beispiel, dass Organisationen sich nicht immer an ihre eigenen Regeln halten, oder dass es in Organisationen zwangs­läufig zu Machtspielen kommt. Oder auch, dass Organisationen immer ein Stück weit Dinge von sich behaupten müssen, die sie in Wirklichkeit gar nicht einlösen. Solche Aspekte werden von der Organisationssoziologie nicht als Pathologie des Organisierens gesehen, sondern als Teil des Organisierens.

Der zentrale Mechanismus für Organisation ist Mitglied­schaft.

Was fällt alles unter den Begriff Organisation?

Ich arbeite mit einem frühen organisationstheoretischen Begriff der Orga­nisation. Er fasst Organisationen als soziale Systeme, die auf einem Mecha­nismus beruhen, den andere soziale Systeme nicht haben: Dieser Mechanismus ist Mitgliedschaft. Organisationen in diesem Sinn sind Parteien, Unternehmen, Protestorganisationen, Verwaltungen, Ministerien und ähnliche.

Dann lassen Sie uns jetzt über Neuerfindung sprechen. Was bedeutet der Begriff für Sie als Wissenschaftlerin?

Die Disziplin der Soziologie ist der Fremdbeschreibung von Systemen verpflich­tet, sie ist nicht verpflichtet, die Selbstbeschreibung von Organisationen mitzutragen. Insofern begreife ich einen solchen Begriff, ebenso wie viele andere, als eine Managementmode. Moden kommen und gehen – bei dieser Feststellung könnten wir es belassen. Ich finde aber, als Organisationssoziologin muss ich mich damit beschäftigen, weil Organisationen, die diesen Begriff verwenden, damit einen Schmerz signalisieren. Diesen Schmerz kann ich gerade bei großen Unternehmen gut nachvollziehen.

Mit dem Instrumentarium, das mir zur Verfügung steht, würde ich ihn so beschreiben: Eins der dominanten Strukturmerkmale von Organisationen sind Erwartungsstrukturen, das hat der Soziologe und Philosoph Niklas Luhmann schon 1964 beschrieben. Organisationen etablieren formale und auch informale Erwartungsstrukturen, wie wir uns in diesen Organisationen zu verhalten haben. Dabei haben wir aber nur einen Teil dieser Erwartungsstrukturen im Griff, nämlich die formalen Strukturen. Die können wir unter bestimmten Bedingungen weg­entscheiden und umentscheiden. Bei den informalen Strukturen geht das nicht. Große, etablierte Unternehmen schleppen immer ein gewisses Paket an alten Erwartungsstrukturen, an Altlasten mit sich herum, die informal noch weiterleben.

Informale Strukturen kann man nicht umentscheiden.

Bleiben wir noch kurz bei dem Schmerz, von dem Sie sprachen. Gibt es dafür typische Auslöser, die Unternehmen veranlassen zu sagen: Wir erfinden uns jetzt neu?

Dazu muss ich vorausschicken, dass Organisationen immer behaupten, dass Reorganisation ihr Ausnahmezustand sei. Es ist aber ihr Normalzustand. Der schwedische Organisationstheoretiker Nils Brunsson hat dazu ein Buch geschrieben, „Reform als Routine“.

Zu Ihrer Frage nach Auslösern: Es gibt verschiedene Situationen von Immobilität, die schlicht durch das Altern der Organisation entstehen. Eine Organisation wird gegründet, sie wächst und altert – dadurch verästeln sich zum Beispiel ihre Formalstrukturen auf der Ebene der Regeln. Das heißt, die Regeln werden immer mehr. Selten werden in Organisationen Regeln abgeschafft oder ersetzt, meis­tens werden noch weitere hinzugefügt. Wenn man sich schließlich bürokratisch verkantet hat, dann wird eine Reform oder eine Neuerfindung ausgerufen.

Also wäre hier der Auslöser, dass ein Unternehmen so alt geworden ist, dass es weh tut. Wie ist es denn mit Einflüssen von außen? Wie stark bringen zum Beispiel Kundenwünsche Unternehmen dazu, sich neu aufzustellen, neue Produkte anzubieten oder ähnliches?

Die Organisationssoziologie wird auch hier manch einen enttäuschen, denn sie muss mit der Idee brechen, dass der Kunde oder die Kundin die Organisation ändert. Sie haben gesagt, „Einflüsse von außen“. Wir Organisationssoziologen sagen: Die Organisation ist ein soziales System, das es schafft, sich von der Umwelt abzugrenzen. In dieser Umwelt befinden sich aber die Kundinnen und Kunden.

Die Organisation ist ein soziales System, das es schafft, sich von der Umwelt abzugrenzen.

Es ist ein Grundproblem des Organisierens, dass man sich gründet, um einen Kunden oder eine Kundin glücklich zu machen oder um den Markt zu bearbeiten, und dann die Mittel dieser Marktbearbeitung einschränken muss, weil man nicht mehr auf jeden Impuls der Umwelt reagieren kann. Diese Einschränkung errei­chen Organisationen dadurch, dass sie sich operativ schließen und im Inneren Verfahren haben, wie sie Informationen aus der Umwelt verarbeiten.

Wie gelangen diese wenigen Informationen ins Innere? Über die Mitarbeiten­den mit Kundenkontakt?

Ja, die Personen, die an diesen Grenzstellen der Organisation sitzen und zum Beispiel herausfinden, dass der Kunde, die Kundin oder der Markt plötzlich etwas anderes will, die verkünden das nach innen. Aber das wird ihnen als persönliche Initiative angekreidet.

Sie meinen, es wird ihnen übelgenommen?

Genau. Organisationen müssen die meisten Informationen ausschließen, weil sie sich sonst lahmlegen würden in der Komplexität Ihrer Umwelt. Deswegen über­sehen Organisationen aber auch so oft, dass sich die Umwelt verändert hat und dass sie sich schon längst hätten anpassen müssen. Warnsignale aus der Umwelt müssen über Grenzstellen in die Organisation getragen werden, aber ebendiese Warnsignale werden dann nicht als Spiegelung der Umwelt wahrge­nommen, sondern als persönliche Initiative derer, die sie weiterleiten. So demotivieren Organisationen Initiativen.

Grenzfälle im selbstverwalteten Gesundheitssystem

Wo endet der Kunde, wo beginnt der Partner?

Vertrieblerinnen und Vertriebler zum Beispiel sind typische Grenzstellen – die sagen: Mein Kunde oder meine Kundin will jetzt etwas anderes. Und dann bekommen sie zur Antwort: Denk nicht immer nur an die Kunden, denk doch auch mal an uns als Organisation. Das ist ein ganz typischer Abwehrreflex. Deshalb ist der Kundenwunsch beziehungsweise allgemein die Umwelt (der Markt, die Politik) als Auslöser für eine Neuerfindung oft ein frommer Wunsch. Aus organisa­tionssoziologischer Perspektive wehren Organisationen Umwelt­informationen ab, sie umarmen sie nicht.

Viele Unternehmen kommunizieren aber durchaus in die Öffentlichkeit, dass sie auf den Markt oder die Kundinnen und Kunden eingehen und sich deshalb verändern wollen. Haben die es also geschafft, mehr Umwelt hereinzulassen?

Das liegt daran, dass Organisationen drei verschiedene Dinge tun. Erstens geben sie sich eine Schauseite; sie arbeiten daran, eine Fassade aufzubauen, hinter der sie in Ruhe arbeiten können. Zweitens geben sie sich formale Regeln. Und drittens gibt es noch das informale Tun. Diese drei Seiten der Organisation sind immer lose gekoppelt. Für die Schauseite gibt es den soziologischen Fach­begriff der „organisierten Heuchelei“ von Nils Brunsson, der sagt, es muss zwischen Talk und Action unterschieden werden. Das heißt: Nur weil eine Orga­nisation sagt: „Wir sind jetzt agil und kundenorientiert“, ist es noch nicht getan. Ich will damit nicht sagen, dass keine Organisation kundenorientiert ist. Ich sage, dass es oft eine funktionale Behauptung ist. Eine Organisation kann schlecht nach außen sagen: Wir ignorieren die Kundinnen und Kunden. 

Was empfehlen Sie Unternehmen, die mehr wollen als „organisierte Heuchelei“ nach außen?

Sich ehrlich und offen die informale Seite der Organisation anzuschauen. Unter dieser informalen Seite verstehen wir etablierte Erwartungsstrukturen, die sich wie Trampelpfade durch die Organisation ziehen. Dazu zählen Regelabweichun­gen, zum Beispiel: Wo machen wir etwas anders, als es im Prozesshandbuch steht, wo gehen wir den kurzen Dienstweg, oder wo gucken wir nicht genau auf die Compliancevorgaben? Auch dafür gibt es einen Fachbegriff, den der „brauchbaren Illegalität“. Es ist für die Organisation tatsächlich sehr brauchbar, dass Menschen in der Organisation von ihren Regeln abweichen und zum Teil gerade deshalb gute Arbeit machen. Das will das Management natürlich nicht sehen, das darf es gar nicht sehen. Solche Bereiche müssen sich aber alle anschauen, die es mit einer Neuerfindung ernst meinen.

Es ist brauchbar für die Organisation, dass Menschen von ihren Regeln abweichen.

Zu dieser informalen Seite gehören auch kollegiale Strukturen: Was darf ich als Organisationsmitglied anderen zum Beispiel nicht sagen, auf welche Fehler darf ich nicht hinweisen, weil ich kollegial bin? Hierher gehören auch Netzwerkstruk­turen wie Cliquenbildung. Da gibt es die strategischen Cliquen, die sich zusammentun, um sich gegenseitig in der Karriere zu fördern. Dann gibt es die sogenannten Selbstachtungscliquen. Das sind kleine Cliquen, die dafür da sind, die Selbstachtung wiederherzustellen, wenn die Organisation sie gekränkt hat. Der Soziologe Erving Goffman spricht von Kollegialität als eine Art Intimität ohne Wärme.

Wer sich wirklich neu erfinden will, muss auch auf diese informalen Erwartungs­strukturen schauen, sonst erlebt man Menschen, gerade in großen Organisa­tionen, die sagen: Das habe ich schon so oft gehört – und diese Menschen werden dann eher zynisch.

Fällt Ihnen ein Beispiel aus Ihrer Beratungspraxis ein, wo das gelungen ist?

Ich habe zum Beispiel ein Unternehmen des öffentlichen Nahverkehrs beraten, das plötzlich dafür da sein soll, salopp gesagt, alle Autos von der Straße zu holen. Das heißt, es soll als zentraler Hebel den Klimaplan des Landes unter­stützen. Das bedeutet eine Transformation von einem Routineprogramm – jedes Jahr x Prozent mehr Fahrgäste – zu einem Zweckprogramm: Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass Mobilitätskonzepte sich so verändern, dass niemand mehr Auto fährt.

Und das war die eigentliche Herausforderung: in einem ingenieurgetriebenen Unternehmen die Menschen in die Lage zu versetzen, diese Veränderung mitzu­denken. So etwas gelingt nur, indem wir uns die Funktionalität der Organi­sation anschauen. Und indem wir die Funktionen, die Leistungen, die da erbracht werden, auch umarmen und mit den Menschen gemeinsam dieses Umdenken gestalten.

Im Interview

Dr. Judith Muster

verfolgt den Anspruch, dass eine gute soziologische Analyse immer auch witzig sein sollte.

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