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Holacracy

Erwartungsbildung in hyper­formalisierten Organisationen

  • Stefan Kühl
  • Freitag, 31. März 2023
Erwartungsbildung in hyperformalisierten Organisationen

Jede Analyse einer Organisation – (aber auch jede Analyse von Freundesgruppen, Kleinfamilien oder Protest­bewegungen) – beginnt mit der Prüfung, in welcher Form Erwartungen gebildet werden. Nur über die Erwartungs­bildung verstehen wir, wie sich das jeweilige soziale Gebilde überhaupt stabilisiert. Und nur die Erwartungen informieren uns darüber, welches Verhalten ein Gegenüber wahrscheinlich zeigen wird und welches Verhalten auf der anderen Seite das Gegenüber von einem selbst vermutet.

Um Erwartungsbildungen genauer zu verstehen, lohnt es sich, zuerst auf das soziale Gebilde der Beziehung zwischen zwei Personen zu schauen. Die Entstehung von Erwartungen in Beziehungen kann weitgehend voraussetzungs­los vor sich gehen. Sie ist „eine Primitivtechnik schlechthin“. Man kann antesten, ob das Bedürfnis nach einem guten Gespräch, nach einer engen Freundschaft oder nach einer sexuellen Beziehung geteilt wird oder nicht. Über die Erfüllung oder Enttäuschung von anfangs spontan gebildeten Erwartungen entwickelt man dann schrittweise Erwartungssicherheit. Man weiß dann irgendwann, dass man gute Gespräche nicht erwarten kann, wenn eine Kollegin gestresst ist, dass man den Anspruch an eine enge Freundschaft nicht Wildfremden gegenüber artikulieren sollte und die Anbahnung sexueller Beziehungen auf der korrekten Deutung der Signale des Gegenübers basieren.

Selbstverständlich kann man immer wieder versuchen, selbst herauszu­bekommen, welche spontan gebildeten Erwartungen sich bewähren und welche enttäuscht werden. Aber irgendwann in der Kindheit entdeckt man, dass es in der Gesellschaft Erwartungen gibt, von denen man ausgehen kann, dass sie sozial stärker unterstützt werden, als andere. Man lernt, dass es nicht geduldet wird, wenn man nackt durch die Stadt radelt, dass aber Nacktheit in den eigenen vier Wänden im Normalfall akzeptiert wird. Diese Erwartungen verfeinern sich immer weiter, bis man begriffen hat, dass das Recht auf Nacktheit in den eigenen vier Wänden eingeschränkt ist, wenn Besuch anwesend ist, oder dass es mit FKK-Stränden öffentliche Orte gibt, in der Nacktheit nicht nur akzeptiert ist, sondern sogar erwartet wird, gleichzeitig aber strikte Normen gelten, wo man hinschauen darf.

Organisationen nutzen Werte und Programme zur Erwartungsbildung 

Wenn man sich Organisationen anschaut, fallen unterschiedliche Formen der Erwartungsbildung ins Auge. In einer Organisation findet die Erwartungsbildung sowohl über Werte und Programme als auch über Rollen und Personen statt. Man muss diese Erwartungsformen in ihrem Zusammenspiel beschreiben, um eine Organisation im Detail zu begreifen. Wenn man Organisationen nur als ein wertebasiertes Gebilde betrachten würde, nur als eine Ansammlung von überpersonalen Programmen, nur als eine Menge von Rollenträgern oder nur als eine Anhäufung von Personen, würde man lediglich ein hochgradig verzerrtes Bild erhalten.

Werte stellen die abstrakteste Form der Erwartungsbildung in Organisationen dar. Es sind „Vorstellungen des Gewünschten“, die sich bei „der Wahl zwischen Handlungsalternativen niederschlagen“, aber keine eindeutigen Kriterien für richtiges und falsches Verhalten geben. Populäre Werte in Organisationen sind Nachhaltigkeit, Diversität, Innovativität, Effizienz, Wertschätzung oder Transparenz. Sie sind so abstrakt, dass sie sich gut für die Schauseite eignen und problemlos in das Leitbild fast jeder Organisation schreiben lassen, legen aber nicht fest, was konkret aus ihnen folgt.

Im Gegensatz zu Werten bilden Programme in Organisationen eindeutige Kriterien für richtiges oder falsches Entscheiden. Die Vertriebsziele in einem Unternehmen, das Verfahren zur Ausstellung eines Reisepasses durch eine Verwaltung oder die Beantragung von Reisekostenerstattung in Universitäten sind so genau spezifiziert, das zwischen korrektem und inkorrektem Verhalten unterschieden werden kann. Aufgrund der Programme kann ein Organisations­mitglied, auch bei Berücksichtigung aller vorhandenen Interpretationsräume, sehr genau erahnen, ob ein Gesetz gebrochen, eine formale Regel der Organisation verletzt oder gegen eine informale Norm verstoßen wird.

Zwischen Rolle und Person

Während Programme personenunabhängig funktionieren, können Rollen in Organisationen immer nur von konkreten Personen ausgeübt werden. Unter einer Rolle versteht man ein Bündel von Erwartungen, die sich an das „Verhalten der Träger von Positionen knüpfen“. Es geht also um Erwartungen, die „ein Mensch ausführen kann“, die „aber nicht auf bestimmte Menschen festgelegt sind“, sondern durch „verschiedene, möglicherweise wechselnde Rollenträger“ wahrgenommen werden. Man erwartet von einem Polizisten, dass er – jedenfalls in einer Demokratie – einem zu Hilfe eilt, wenn man von einem Kriminellen bedroht wird. Welcher Polizist das ist, ist für die Erwartungsbildung egal. Die Erwartung knüpft sich bei Rollen nicht an eine spezifische Person, sondern eben an ein in einer Rolle zusammengefasstes Bündel von Erwartungen.

Von einer Stabilisierung von Verhaltenserwartungen über Rollen lässt sich die Erwartungsbildung über Personen abgrenzen. Wir wissen intuitiv, dass sich das, was wir mit einem Menschen erlebt haben, nicht ohne Weiteres auf Erfahrungen mit einem anderen Individuum übertragen lässt. Um Erwartungssicherheit in Bezug auf Personen entwickeln zu können, müssen wir sie in einer Reihe von Situationen erlebt haben, in der sie sich mit ihren Besonderheiten darstellen konnten. Die Erwartungsstabilisierung über Personenkenntnis spielt natürlich besonders bei Liebespaaren, bei Kleinfamilien und bei Freundschaftsgruppen eine wichtige Rolle. Aber sie wirkt auch in Organisationen. Man erkennt schnell, dass sich Personen auf der gleichen Stelle ganz unterschiedlich verhalten, und die Einschätzung der Persönlichkeit der verschiedenen Stelleninhaber ermöglichen es einem, genauer zu wissen, was man erwarten kann.

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Schattenorganisation: Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

Rollenerwartungen sind das wichtigste Werkzeug von Holacracy

Auch in holakratischen Organisationen finden sich unterschiedliche Formen von Erwartungsbildungen. Keine holakratische Organisation verzichtet auf die üblichen Bekenntnisse zu Werten wie Partizipation, Nachhaltigkeit und Achtsamkeit. Die Verfassung, die von allen holakratischen Organisationen unterzeichnet werden muss, sind eine Ansammlung von Programmen, mit denen richtiges und falsches Handeln innerhalb der Holacracy bestimmt wird. Rollen werden in dieser Verfassung als zentrales Element holakratischer Organisationen bestimmt und spielen in Form umfassender Stellenbesch­reibungen für jedes einzelne Organisationsmitglied eine wichtige Rolle. Aber bei aller Fokussierung auf Rollen lässt sich natürlich auch in holakratischen Organisationen nicht verhindern, dass sich eine Erwartungsbildung über Personen ausbildet.  

Aber in der Holacracy werden bei der Erwartungsbildung eindeutige Schwerpunkte gesetzt. Wenn man das holakratische Konzept in der denkbar knappsten Form beschreiben will, dann ist es der Traum davon, dass es durch in eine rigide Verfassung gegossene Programme möglich wird, die Verhaltens­erwartungen in Organisationen weitestgehend über präzise definierte Rollenerwartungen zu erreichen. Dieser Traum wird seit über hundert Jahren in Organisationen immer wieder geträumt, wird aber in der Holacracy in nahezu idealtypischer Form angestrebt.

Autor

Prof. Dr. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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