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Holacracy

Über die Wellen der Durch- und Deformalisierung

  • Stefan Kühl
  • Freitag, 14. April 2023
Wellen der Durch- und Deformalisierung

Wie viele Regeln braucht eine Organisation? Auf die Frage gibt es in Wellen neue Antworten. Die aktuelle Mode ist es, auf wenig Regeln, dafür besonders verantwortungsvolles Personal zu setzen. Holakratische Modelle bilden dabei die spannende Ausnahme.

Wenn man sich die Diskussion über neue Organisationsformen anschaut, dann muss man sich sowohl als Wissenschaftler:in als auch als Praktiker:in erst einmal durch semantischen Müll quälen. Versuche, postbürokratische Organisationen über das modische Wort der Agilität zu bestimmen, sind häufig nichts anderes als eine Sammlung mehr oder minder wohlklingender Wertelisten. Für ein Unternehmen bedeute Agilität, so nur ein Beispiel einer solchen schwurbeligen Bestimmung, die Fähigkeit, in einer Wettbewerbsumgebung, die charakterisiert ist durch ständige sowie unvorhersehbare, sich ändernde Kundenwünsche, gewinnbringend zu operieren. Der Begriff agiles Management von Unternehmen beschreibe, so ein weiteres Beispiel einer solchen Aneinanderreihung nichtssagender Worte, eine Form der flexiblen und schlanken, innovativen sowie kundenorientierten, mitarbeiterkompetenzorientierten, sich auf neue Technologien stützenden Organisation, die Marktentwicklungen frühzeitig erkennt und sich bei den Strukturen und Prozessen wie bei den Personen und Kulturen schnell anpasst.

Wie bei allen Wertelisten ist der Effekt solcher Anhäufung klangvoller Vokabeln eine hohe Konsenssicherheit. Wer möchte nicht, dass sein Unternehmen die Fähigkeit hat, in einer Wettbewerbsumgebung gewinnbringend zu operieren? Wer will nicht eine flexible und schlanke, innovative und kundenorientierte, mitarbeiterkompetenzorientierte und sich auf neue Technologien stützende Organisation haben, die Marktentwicklung frühzeitig erkennt und sich bei Strukturen und Prozessen wie bei Personen und Kulturen schnell anpasst? Diese Aneinanderreihung diskursiver Klingeltöne eignet sich deshalb für die Zustimmung heischenden Sonntagsreden einer Vorstandsvorsitzenden oder eines Geschäftsführers, sie bieten aber keine Orientierung über das, was in Organisationen wirklich stattfindet.

Neue Management-Moden experimentieren mit der Menge an Formalisierung

Dabei produziert der semantische Müll im Managementdiskurs einen verheerenden Effekt. Durch das Zelebrieren von wohlklingenden Wertekatalogen wird übersehen, dass sich – und dieser Gedanke ist zentral – im Schatten mit abstrakten Begriffen wie Agilität und Flexibilität zwei grundlegend verschiedene Vorstellungen von Organisationen ausgebildet haben. In der einen Vorstellung wird versucht, Effizienz, Effektivität und Innovation durch ein Höchstmaß an Formalität zu erreichen, während in der anderen zur Erreichung dieser Ziele auf ein Höchstmaß an Informalität gesetzt wird. Wenn man sich die Vorliebe in der Managementliteratur für auf einen Buchstaben reduzierte Modellbezeichnungen anschaut – „Modell X“, „Modell Y“, „Modell J“ –, dann könnte man an dieser Stelle von einem „Modell F“ und einem „Modell I“ sprechen.

Im „Modell F“ – dem Modell Formalität – ist das Ziel, über genaue Rollendefini­tionen eine möglichst hohe Zahl an Verhaltenserwartungen an die Organisationsmitglieder formal zu fixieren. Die Erfolgsformel wird in der immer weiteren Detaillierung und Perfektionierung formaler Rollenerwartungen gesehen. Die Existenz von an Personen gebundenen informalen Erwartungen in Organisationen wird zur Kenntnis genommen, aber angestrebt wird, möglichst viele von diesen in formale Rollenerwartungen zu übersetzen. Die Menschen sollen, so die traditionelle Darstellung, wie Rädchen im Getriebe der Organisation funktionieren. Die Metaphern, die für dieses Organisationsmodell verwendet werden, sind dann auch konsequenterweise Maschine, Mechanismus, Apparat oder Betriebssystem.

Im „Modell I“ – dem Modell Informalität – wird demgegenüber darauf vertraut, dass sich auf der Basis von Personenvertrauen möglichst viele Erwartungen in Organisationen informal ausbilden. Die Erfolgsformel besteht darin, dem Drang zu einer immer weiteren Durchformalisierung der Verhaltenserwartungen in immer detaillierteren Rollenbeschreibungen zu widerstehen. Die Notwendigkeit formaler Rollenerwartungen wird zwar nicht negiert, aber diese sollen lediglich einen Rahmen für die auf Personenvertrauen basierenden informalen Erwartungen bilden. Die Menschen sollen, so die Kurzformel, im Mittelpunkt der Organisation stehen. Die Metaphern, die für dieses Organisationsmodell verwendet werden, sind Organismus, Gemeinschaft, Lebenswelt oder Kultur.

Formalisierungs- und Informalisierungswellen sind bekannte Phänomene

Seit über Organisationen nachgedacht wird, werden die Schwerpunkte entweder auf die Potenziale der Formalität oder die Potenziale der Informalität gelegt. Überspitzt ausgedrückt: Man kann die Geschichte von Management­konzepten als ein Hin- und Herwechseln nicht nur zwischen Abbau und Reduzierung von Hierarchien oder zwischen der Ausdifferenzierung oder Auflösung von Abteilungsgrenzen, sondern auch zwischen Formalität und Informalität beschreiben.

Der Taylorismus Anfang des 20. Jahrhunderts war dabei sicherlich der erste prominente Versuch, Effizienzvorteile durch eine weitgehende Durch­formalisierung der Organisationsrollen mit Wenn-Dann-Regeln – sogenannten Konditionalprogrammen – zu erreichen. Die nach dem Zweiten Weltkrieg prominenten Modelle der Führung im Mitarbeiterverhältnis oder der Führung über Zielvereinbarungen löste sich dann zwar von der Vorstellung, dass Organisationsmitglieder durch möglichst genaue Konditionalprogramme geführt werden sollten, setzen aber weiterhin auf die Möglichkeiten der Formalisierung – in diesem Fall durch die Festlegung genauer Zweckprogramme für alle Rollen in der Organisation.

Als Reaktion auf die Versuche weitgehender Formalisierung bildeten sich immer wieder auch Organisationskonzepte aus, die auf die Ausbildung informaler Erwartungen setzten. Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden Konzepte der Werksgemeinschaft, in dem der Schwerpunkt auf die Ausbildung an konkrete Personen gebundenen kollegialer Erwartungen bei der Erledigung von Aufgaben gesetzt wurde. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildeten sich dann Modelle einer „vergemeinschaftenden Personalpolitik“ aus, in der die Bedeutung der Person in den Mittelpunkt der Erwartungsbildung gestellt wurde. Diese fanden zuerst in Japan, dann in den USA und schließlich in Europa unter dem Begriff der Organisationskultur große Aufmerksamkeit.

Das Buch zum Thema

Schattenorganisation: Agiles Management und ungewollte Bürokratisierung

Personal als populärer Hebel in der Organisation

Auch wenn man bei postbürokratischen Organisationen erst einmal einen geringen Grad an Bürokratisierung vermutet, scheint es bei jeder Diskussion über neue Organisationsformen Konzepte zu geben, die entweder stärker auf Formalität oder auf Informalität setzen. Es gibt einerseits Modelle, die eine Reduzierung von Hierarchien und ein Aufweichen von Abteilungsgrenzen durch eine Betonung der an Personen gebundenen informalen Erwartungsbildung anstreben. „Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge“ lautet die Kurzformel, in der diese Überlegung im agilen Manifest zusammengefasst wird. Der Schwerpunkt wird dabei auf die Personalpolitik gesetzt, in der Hoffnung, dass Personal unbelastet durch formale Regeln miteinander kooperieren kann. Anderseits gibt es aber – anders als es der Begriff der postbürokratischen Organisationen vermuten lässt – eben auch hier Ansätze, die eine Reduzierung von Hierarchien und ein Aufweichen von Abteilungsgrenzen durch eine stärkere Formalisierung von Rollenerwartungen anstreben. Holakratische Organisationen sind dabei nur die radikalste Variante, in der durch eine detaillierte Festlegung von formalen Rollen eine Art „Agilisierung“ angestrebt wird.

Über die Organisationen, die unter dem Label der Postbürokratie versuchen, ihre Hierarchien abzubauen, ihre Abteilungsgrenzen aufzuweichen und ihre formalen Anforderungen runterzuschrauben, wissen wir sowohl in der Forschung als auch in der Praxis gut Bescheid. Über Organisationen, die eine Abflachung von Hierarchien und Aufweichen von Abteilungsgrenzen bei einer gleichzeitigen Hyperformalisierung der Organisation versuchen, gibt es aber bisher sowohl in der Forschung als auch in der Praxis kaum Erkenntnisse. Den Prozess der Hyperformalisierung genauer zu begreifen, ist das zentrale Anliegen des Buches “Schattenorganisation.”

Autor

Prof. Dr. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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