Zum Hauptinhalt der Webseite
Die Bürde des Entscheidens

Entscheidungsschwäche

  • Günther Ortmann
  • Freitag, 14. Juli 2023
Entscheidungsschwäche

„Do you personally have any difficulty making decisions?“
„Well, yes and no.“

Dieses Schwanken verdient unser Erbarmen. Sollte wirklich die Qual der Wahl nur ein Zeichen von Schwäche sein? Ich persönlich bin mir da nicht ganz sicher. Ich neige zu der Antwort: einerseits, andererseits.

Im Augenblick der Entscheidung mag es heißen: Erst ja, dann wieder nein. Im Gespräch mit den einen ja, mit den anderen nein. Unter dem Eindruck von Pro-Argumenten ja, von Contra-Argumenten nein. Und, noch merkwürdiger: vor der Entscheidung ja, danach nein. Vorher Zaudern, nachher Hadern. Dies letztere wird zum Thema gemacht von einer berühmten Theorie: Lionel Festingers Theorie der kognitiven Dissonanz. Gemeint ist das Unbehagen, das uns beschleicht, wenn wir uns entschieden haben. Sogleich beginnt der Zweifel an uns zu nagen, die nachträgliche Frage, ob wir nicht anders hätten entscheiden sollen. Soll ich die Wohnung nehmen? Ja, sonst entgeht mir diese Gelegenheit! Kaum habe ich mich entschieden, gewinnt der bohrende Zweifel Oberhand: Hätte ich es nicht woanders besser treffen können?

Der Entscheider gleicht jenem Tischtennisball, der im Physikunterricht als Paradigma für elektromagnetische Attraktion und Repulsion herhalten musste. Der Ball bewegt sich als elektromagnetisches Pendel zwischen zwei entgegengesetzt geladenen Kondensatorplatten hin und her, weil er von der einen Platte positiv aufgeladen und eben dadurch abgestoßen wird, daher gegen die andere Platte stößt, von der er nun negativ aufgeladen und wiederum abgestoßen wird, und so fort. Vor die Wahl zwischen zwei Alternativen A und B gestellt, bewirkt die positive Entscheidung für A ihre Abstoßung und die Rückkehr zu B, die aber die Rückkehr zu A bewirkt. Ewige Wiederkehr von Attraktion und Repulsion.

Das eben wäre zum Verrücktwerden, wäre da nicht Hoffnung, dieser schlechten Unendlichkeit doch zu entrinnen.

Eine Mikrologie des Entscheidens à la Schütz lehrt, dass die Pendelbewegungen der Dissonanz unvermeidlich und dem Reifen der Entscheidung durchaus förderlich sind. Denn eines ist es, die Dinge „von vorne“ zu betrachten, aus der Perspektive dessen, der sich noch nicht entschieden hat (und daran vielleicht leidet), ein anderes, ihre „Rückseite“ zu inspizieren: sich anzuschauen (oder vorzustellen), wie sie nachher aussehen – wenn man sich festgelegt hat (und nun vielleicht daran leidet, festgelegt zu sein). Das ist kein müßiges Hin und Her, weil wir das Her im Lichte des Hin, das Hin aber beim zweiten Mal im Lichte des Her anschauen und abschätzen, danach wieder das Her im Lichte des neuen, des zweiten Hin, und so fort, im glücklichen Falle bis beide einander nicht länger Korrekturinstanz sind und die Entscheidung sich ablöst wie eine reife Frucht vom Baum. (Sie wird dann nicht gefällt. Sie fällt.) Verrückt ist nicht das Hin und Her, eher schon sein Ausbleiben. Entscheidungsstärke, von keinem Zweifel ange­kränkelt, ist eine Gesundheit, die extrem ansteckend und in fortgeschrittenem Stadium unheil­bar ist. Der Zweifel ist die Stimme der verschwiegenen Unmöglichkeit des Entscheidens.

Die Theorie der kognitiven Dissonanz aber lehrt, dass wir diese dissonante Stimme nicht mehr hören wollen, sobald die Würfel gefallen sind; dass wir uns dann lieber taubstellen als der Dissonanz Gehör zu schenken; dass wir uns gute Gründe einreden, wenn und weil sie fehlen; dass wir lieber Beschwichtigung und Bestärkung suchen, statt die Entscheidung zu überdenken; dass der Wunsch nach Stimmigkeit zum Vater unserer Gedanken wird. Ich habe das Auto gekauft? Dann will ich von Mängeln am liebsten nichts mehr hören. Für Zuspruch dagegen und süße Einflüsterungen bin ich dankbar. Die Aktien, die ich gerade gekauft habe, fallen? Ich verkaufe sie noch lange nicht, denn das hieße ja, meinen Fehler einzugestehen und meine Niederlage zu besiegeln. Lieber verschließe ich die Augen (und nehme weitere Verluste in Kauf). Bloß nicht zulassen, was im Theoriejargon auch „post-decision regret“ genannt wird: das Leiden daran, womöglich eine Fehlentscheidung getroffen zu haben.

Diese individuelle Neigung hat ihr organisatorisches Pendant. In Organisationen ist es nicht (nur) die innere Stimme des Entscheiders, sondern die der Anderen, der anders­denkenden Fraktion oder Abteilung, die unterdrückt sein will, wenn die Entscheidung gefallen ist. Und nachträgliche Kontrolle hat keine Lobby. Nachher müssen alle, die Sieger und die Verlierer, nicht nur vor sich selbst, sondern auch vor den Anderen das Gesicht wahren. Nachher ist organisatorische Konsonanz gefragt.

Erstmals in: Kunst des Entscheidens. Velbrück Wissenschaft Weilerswist 2011.
Wir danken dem Verlag für die Erlaubnis, den Text hier neu zugänglich zu machen!

Autor
Günther Ortmann

Prof. Günther Ortmann

war zuletzt Professor für Führung an der Universität Witten/Herdecke im Department für Management und Unternehmertum.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Du interessierst dich für unsere Themen?

Mit dem VERSUS Newsletter halten wir dich regelmäßig über neue Artikel, Themen und Angebote auf dem Laufenden.