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Matthiesen meint

Die Guten kriegt man nicht umsonst

  • Kai Matthiesen
  • Freitag, 30. Juni 2023
die Guten kriegt man nicht umsonst

„Ich schmeiße ihn raus“, sind selten die ersten Worte, die ich aus einem Telefonhörer höre. Aber anscheinend ist wirklich für alles einmal das erste Mal. Wir geben der Stimme am anderen Ende einen neuen Namen: Für diese Geschichte spricht dort Tristan. Tristan ist mitverantwortlich für die Organisationsgestaltung bei einem Anlagenbauer. Sie sind vor allem im Auftrag der Chemieindustrie tätig und füllen ganze Fabrikhallen mit den Geräten und Apparaturen, die der jeweilige Produzent braucht.

Wer schon einmal ein Eigenheim gebaut oder saniert hat, weiß, wie entspannt und kompromissorientiert die Zusammenarbeit der Gewerke ablaufen kann. Vom ersten Bleistiftstrich bis zum letzten Stück Parkett kommt so viel Genuss auf, dass den Bauherren und -damen vor Freude die Haare grau werden. Es ist nicht viel Fantasie nötig, um sich vorzustellen, wie bei mehr Risiko, höheren Investitionen und mehr Meinungen über eingesetztes Material, richtige und falsche Bauweisen auch der soziale Konfliktstoff mit(es)skaliert.

Wie in der Branche üblich, hat auch Tristan leitende Ingenieur:innen im Einsatz, um über diese Konflikte die Kontrolle zu behalten. Zur Rolle gehört, den Bau der Anlage zu überwachen, auf die Einhaltung der technischen Anforderungen und Richtlinien zu achten, sowie bei „offenen Fragen“ (also: Streit) zwischen den Fachteams zu vermitteln. Wenn die Ingenieurinnen und Ingenieure ihre Arbeit gut machen, schließen sie die Lücke zwischen den theoretischen Fragen und der praktischen Umsetzung. Sie verwandeln „So kann es nicht gehen“ in „So machen wir es.“

Mit einem dieser leitenden Ingenieure – ihn nennen wir Mark – war Tristan nun am Ende seiner Geduld. Auf fachlicher Ebene war an dessen Arbeit nichts auszusetzen, im Gegenteil. Doch hinterließ er bei Aufträgen regelmäßig soziale Kahlschläge. Seine Expertise machte ihn rücksichtslos: Wieso anderen den Raum geben, ihre Ideen mitzuteilen, und sich zu erklären, wenn diese inkompetenter sind? Das kostet nur Zeit, die man sich auch sparen kann. Was die betroffenen Menschen – Planer, Ausführende, Zulieferer, beteiligte Geschäftspartner, Auftraggeber – davon hielten, wenn sie derart überfahren wurden – das war Mark egal.

Warum wirft man so einen Menschen nicht viel früher raus, ist hier eine naheliegende Frage. Die Antwort ist: Mark ist einfach zu gut in allen anderen Teilen seiner Rolle. Für manche Projekte bleibt seine Fachkenntnis unverzichtbar. Und trotz allem Ärger, und all der zwischenmenschlichen Scherben, die man hinter ihm auffegen muss, ist doch eine beachtliche Anzahl an Anlagen entlang von Marks sehr speziellem „So machen wir es“-Stil umgesetzt worden. Seine Erfolge haben ihm also immer weiter recht gegeben – bis jetzt.

Wir diskutierten also darüber, ob – und wenn ja, wie, eine weitere Zusammenarbeit mit Mark möglich sei. Wie sich seine Qualitäten im Verhältnis zu seinen Fehlern ausmachten, und wie die Organisation von beidem beeinflusst werden würde – davon, wenn er bliebe. Wie von seinem Abgang.

Mir rief dieses Gespräch das Sprichwort eines guten Freundes in Erinnerung: „Die Guten kriegt man nicht umsonst.“ Das kann man auf zwei Weisen verstehen: Natürlich lassen sich „die Guten“ ihre Arbeit vergelten. Wer seinen Wert kennt, wird ihn einfordern. Doch kann es genauso um immaterielle Kosten gehen – um Folgen, die die Anwesenheit einer Person hat, die abseits der formalen Vereinbarungen in die Organisation strahlen.

Vielleicht hat man einen genialen Forschergeist für die R&D, der großartige Ideen hat – der aber seine Energie auf Projekte und Fragen aller Arten wirft und alle irritiert, sobald Leerlauf aufkommt. Also sieht man zu, dass der Forschergeist eng geführt und stets gut beschäftigt ist. Oder eine Abteilungsleitung ist fantastisch in der Arbeit an den großen Zusammenhängen, beim Vereinen von verschiedenen Anliegen unter einer gemeinsamen Idee (oder zynischer: Konsensfiktion) – aber wenn es um die Details des Alltags geht, verzettelt sie sich. Also muss sich jemand anders um diese Details kümmern. Entweder formal, mit einer starken Stellvertretung, oder informal – etwa durch gemeinsame Anstrengungen mithilfe von „Führung von unten“. Und natürlich gibt es die fachlich Brillanten, die aber sozial eine Zumutung darstellen – die Marks, die es so und ähnlich in fast jedem Unternehmen gibt. Irgendwie müssen die nah an die Materie, weit weg von Menschen positioniert werden.

Wenn man von der Prämisse ausgeht, gleiche Strukturen für alle schaffen zu wollen, sind solche Personen fast ein Affront. Kann es wirklich sein, dass es Menschen gibt, denen man solche Sonderlösungen angedeihen lässt? Können die sich nicht einfach ins System fügen, wie alle anderen auch? Wie kann man rechtfertigen, dass die Anstrengenden, die Lauten, durch besondere Strukturen bedacht werden – während sich alle, die sich in den gegebenen Strukturen vernünftig bewegen, ohne persönliche Zuwendung auskommen müssen?

Es gibt keine einfache Antwort auf diese Fragen. Doch das Spannende ist: Man kann sie mit genau den gleichen Maßstäben diskutieren, wie eine Umstellung von Hierarchien oder Prozessen. Dann geht es nicht um normative Grundsätze, sondern nur um ein Abwägen: Welche Leistung erhalte ich, mit welchen Folgen kommt sie einher? Bezogen auf die Marks dieser Welt, ist die Frage also: Sind die Lösungen, die diese Person bereitstellt, die Probleme wert, die sie verursacht?

Und so versachlicht, lässt sich die Frage diskutieren, wie jede andere Entscheidungsprämisse. Gleichzeitig wird deutlich, dass Personalstrukturen nicht nur über Stellenbeschreibungen und Rollen gestaltet werden. Es sind immer noch lebende Menschen in der Organisation, die mit ihren Qualitäten und Charaktereigenschaften die modellhaften Anforderungen unweigerlich sprengen müssen. Manche fehlenden Fähigkeiten kann man noch nachträglich ausbilden. Doch oft genug ist nicht Ausbildungsarbeit, sondern Organisationsarbeit gefragt. Die kann etwa durch diese Fragen geleitet werden:

  1. Wie viel Varianz verträgt die Organisation noch? Ist das doch ein Normbruch zu viel?
  2. Welche Folgen, die die Person erzeugt, kann man mit formalen Strukturen abdecken?
  3. Was wird die Kultur abfangen müssen?
  4. Schließlich: Ist es verantwortbar, die Kultur diese Zumutung tragen zu lassen?

Das klingt nach viel Arbeit, nur um eine einzelne Person in der Organisation halten zu können. Das ist es auch. Und dennoch gilt: Die Guten gibt es nicht umsonst.

Deswegen darf Mark auch noch bleiben. Was die Fragen der Gestaltung um ihn herum angeht, stehen wir allerdings noch bei Frage 2.

Autor
Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augen­merk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisations­mitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

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