Das ist der zweite Teil einer Reihe über die Besonderheiten konstruktivistischer Organisationsberatung. Hier geht es zum ersten Teil.
Auftragsklärung trifft auf Problemkonzepte
Mir fallen in letzter Zeit immer wieder die Parallelen zwischen einer ärztlichen Konsultation und einer Organisationsberatung auf. Persönlich nehme ich Abstand davon, die Metapher bis ganz zum Ende zu strecken, über Organisationen als krank oder gesund oder über Veränderungen als Therapien zu sprechen. Aber auf der Ebene der konkreten Interaktion erstaunt mich, welche Gemeinsamkeiten es zwischen den Erstgesprächen einer Ärztin oder eines Psychotherapeuten und einem Erstgesprächs bei einem Beratungsmandat gibt. Auch wenn man den Prozess jeweils anders nennt, geht es hier für alle um Auftragsklärung.
Die psychodynamische Psychotherapie bietet ein für mich besonders spannendes Werkzeug in der Auftragsklärung: Sie empfiehlt das Abfragen der angewendeten Problem- bzw. Krankheitskonzepte. Bevor eine Therapeutin oder ein Therapeut anfängt, an Lösungen zu arbeiten, findet er heraus, welche Erwartungen Patienten haben. Haben sie sich schon selbst durchdiagnostiziert und wissen nicht nur genau, was nicht stimmt, sondern auch was sie jetzt brauchen? Oder haben sie im Gegenteil so wenig Einsicht in das erlebte Problem, dass sie nicht einmal abgrenzen können, wo Normalität endet und das Problem beginnt? Der Abstand zwischen beiden Extremen führt zu einem erheblichen Spektrum an möglichen Vorgehensweisen.
Vergleichen wir das mit Organisationsberatung: Da sind die Klienten meist über den Zustand diffusen Unwohlseins hinaus. Mitunter wird auch der Schritt der Problematisierung ganz übersprungen und die Suche nach Beratung entspricht der Suche nach einer Lösung (mutigere Führungskräfte, agile Prozesse, starkes Leitbild). Hier haben Beratungen einen unschlagbaren Vorteil, die organisationsunabhängige Produkte anbieten. Customer-Centric-Organisation, Lean Management, oder Growth Mindset sind fertige Leistungen im Katalog. Jetzt buchen, nur noch ein Klick! Die Angebote passen perfekt auf das, was sich Nachfragende als Lösung wünschen.
Problemkonzepte dekonstruieren
Ich bin nicht davon überrascht – das macht den Unterschied zwischen freiem Markt und einem stark regulierten Feld wie dem Gesundheitssektor aus. Man kann nicht verhindern, dass die einen verkaufen, was die anderen gerne kaufen wollen. Und unmittelbare Bedürfnisbefriedigung führt (im ersten Schritt) zu angenehmen Interaktionen. Selbst wenn hinterher Ernüchterung eintritt oder Ärger entsteht, ist der Verkäufer bestens legitimiert: Es wurde geliefert was bestellt war.
Nichtsdestotrotz wünsche ich mir, dass wir uns in der Organisationsberatung mehr Zeit lassen würden für das Verstehen und Dekonstruieren von Problemkonzepten. Denn ich finde mich häufig mit Kunden in einer Situation wieder, in der ich den Geist von Obi-Wan Kenobi beschwören und gestenreich verkünden möchte: Das sind nicht die Lösungen, die ihr sucht. Leider verfängt der Trick nur selten. Stattdessen muss ich um die Geduld bitten, die es braucht, um gemeinsam einen Perspektivwechsel durchführen zu können.
Dreh- und Angelpunkt des Perspektivwechsels ist wieder der Konstruktivismus. Denn mithilfe des Konstruktivismus kann ich erklären: „Aus deiner Sicht kann es gerade nur diese eine Lösung sein, weil es aus deiner Sicht um dieses eine Problem geht. Aber lass uns einmal einige andere Perspektiven anprobieren.“ Die Technik ist vielleicht am besten verständlich, wenn man an den alten „Ist das Kunst oder kann das weg?“-Witz denkt: Die einen wissen, wenn etwas aussieht wie Dreck, sich anfühlt wie Dreck und riecht wie Dreck, dann ist es Dreck. Und die anderen verstehen Kunst von Joseph Beuys.
Je nachdem, welche Kategorien, welche Unterscheidungen die Welt sortieren, sind andere Handlungen naheliegend. Das funktioniert mit einer schmutzigen Badewanne genauso wie mit einer Stelle im Management.
Harmoniebringer sucht Resilienz
Ein Beispiel: Vor kurzem habe ich mit einem Manager gearbeitet, der seine Stelle in der Organisation als Harmoniebringer interpretierte. Er sah es als seine Aufgabe an, Menschen zusammenzubringen und allen ein gutes Gefühl in Bezug auf ihre jeweilige Arbeit zu geben. Er erfüllte diese Aufgabe mit Bravour – erlebte aber zugleich, wie ihm das Erfüllen nach und nach die Kräfte nahm. Gute Gefühle vermitteln, den Arbeitsplatz mit Harmonie zu füllen, das sind Aufgaben, die nur durch persönlichen Einsatz zu schaffen sind. Es gibt keine formalen Mittel, die dabei helfen. Man kann nichts delegieren. Man kann nicht einmal Einsatz rausnehmen und der Aufgabe etwas lustloser nachgehen, denn lustlos Menschen zusammenzubringen oder lustlos zu motivieren ist mindestens unfreiwillig komisch, und wenn nicht, dann kontraproduktiv.
Der Manager wollte mit mir danach suchen, was er besser machen kann: Wie kann er die Intensität hochhalten, ohne sich zu verausgaben? Wo verschenkt er eventuell Zeit im Tag, die er für Pausen nutzen könnte? Was sind mögliche Energiediebe? Sein Problemkonzept drehte sich um ihn selbst: Wo steht er sich im Wege, um die Aufgabe gut zu erfüllen? Folgerichtig war auch seine Lösungssuche auf eigene Mittel beschränkt.
Meine Aufgabe bestand nun darin, ihn zu enttäuschen. Ich wollte keine dieser Fragen mit ihm klären; ich wollte stattdessen sein Problemkonzept umschubsen. Geholfen hat mir dabei unser Organisationsverständnis: Wir gehen davon aus, dass Konflikte zu jeder Organisation gehören, die auf irgendeine Weise Arbeitsteilung nutzt. Jede Teilung von Arbeit erzeugt neue Teilziele, neue Antworten auf die Frage „Wann habe ich einen guten Job gemacht?“ Und wieder hilft uns der Konstruktivismus: Jedes Organisationsmitglied hat dadurch seine eigene Wirklichkeit, mit eigenen Regeln, eigenem Verständnis davon, was vernünftiges Verhalten ist. Konflikte entstehen jetzt dort, wo verschiedene Vorstellungen davon, was vernünftig ist, sich widersprechen. Das passiert meist, wenn sich (Unter-)Ziele widersprechen oder es ums Verteilen rarer Ressourcen geht.
Gutes Management versachlicht Konflikte
Es gibt keine Möglichkeit, Konflikte zu vermeiden. Offen ist nur, wie diese aussehen. Konflikt kann Anschreien bedeuten, knallende Türen und empörte @ALL Emails. Konflikt kann auch Hinterhältigkeit bedeuten, das Zeigen freundlicher Fassaden, während man dahinter ausgrenzt, mobbt und fertig macht.
Aus unserer Sicht ist es eine der wichtigsten Aufgaben des Managements dafür zu sorgen, dass Konflikte so sachlich wie möglich geführt werden können. Wenn engagierte Menschen zueinander sagen:
„Ich verstehe deinen Standpunkt, aber…“, dann ist das nicht nur besser als
„Wie dumm kann man sein?!“ Es ist auch besser als
„Großartige Idee. So machen wir es.“
Vor dem Hintergrund dieses Perspektivwechsels konnte ich dann fragen: Möchtest du immer noch über deine Belastung nachdenken und was dir helfen könnte, resilienter zu werden? Oder wollen wir schauen, wie man für die Konflikte in deinem Verantwortungsbereich angemessene Arenen schafft?
Natürlich machen wir jetzt Letzteres. Aber mich beschäftigt weiterhin: Wenn es ein neuer Kunde gewesen wäre, ohne Erfahrung mit uns, ohne daraus gewonnenes Vertrauen: Wen bucht dieser Kunde – den Dienstleister, der um Geduld bitten muss für einen Perspektivwechsel, um das Problemkonzept irritieren zu können? Oder den Dienstleister, der sich ganz auf die Kundenperspektive einlässt und die perfekte Lösung verspricht?
Ausblick
In der nächsten Kolumne geht es darum, wann man genug Perspektiven gehört hat und sich informieren zu handeln werden kann.