Vor Kurzem kam ich bei einem großen Kunden in die Bilderbuch-Situation des Elevator-Pitches. Ein neugieriger Mensch, nur wenige Minuten Zeit und die Frage: „Was ist anders, wenn ich mit euch arbeite, als wenn es eine der ‚Großen Beratungen‘ ist?“ Als erfahrener Consultant war ich auf die Situation selbstverständlich – nicht vorbereitet, habe zu weit ausgeholt und mich an den falschen Unterschieden abgearbeitet.
Weil ich ein vernünftiger Mensch bin, hat mich das nicht weiter beschäftigt. Darum habe ich jetzt, nur wenige Monate später, Antworten parat. Es ist nun weniger ein Elevator Pitch als eine Diskussionsgrundlage geworden. Es ist nicht ein Artikel geworden. Es wird eine Reihe.
Dieser erste Teil der Reihe erklärt die grundlegende Unterscheidung, die ich in der Landschaft der Beratungen identifiziere: Das ist die Unterscheidung, ob mit zweckrationalem oder konstruktivistischem Verständnis von Organisation gearbeitet wird. Die weiteren Teile der Reihe werden auf einzelne Aspekte davon eingehen, was man davon hat, sich auf das eine oder das andere einzulassen.
Ein überlebter Blick auf Organisation lebt weiter
Um keine falschen Erwartungen an geheuchelte Objektivität zu wecken: Ich bin Sozialkonstruktivist. Auf eine kurze Definition gebracht heißt das: Ich gehe davon aus, was wir jeweils als Wirklichkeit wahrnehmen, ist Ergebnis sozialer Leistung. Erziehung, Sozialisation, Kultur formen nicht ein bisschen, sondern ganz entscheidend, wie wir die Welt verstehen. Jeder Mensch lebt in seiner Realität und es ist Arbeit, diese Realitäten miteinander abzugleichen. Für mich bietet keine andere Theorie bessere Erklärungen dafür, wieso Menschen miteinander umgehen, wie sie miteinander umgehen. Vor allem in Organisationen.
Sozialkonstruktivistische Ansätze sind für mich derart einleuchtend, dass ich immer wieder verwundert darüber bin, dass andere Theoriemodelle, voran das zweckrationale Modell, noch Anwendung finden. Vielleicht ist manchen Lesenden nicht geläufig, was ich meine, wenn ich vom zweckrationalen Modell spreche. Das liegt auch daran, dass ihre Anwender nicht sagen, dass sie ein zweckrationales Modell nutzen. Sie beschreiben ihre Sicht als „objektiv“, „logisch“, „sachlich“ oder schlicht „rational“ und kürzen die Einschränkung „Zweck-“ ein.
Das zweckrationale Modell basiert auf – aus meiner Sicht skurrilen – Annahmen darüber, wie Menschen Entscheidungen treffen. Man geht davon aus, dass ein Mensch
- vor einer Entscheidung alle nötigen Informationen sammelt
- auf Basis der Informationen Kosten und Nutzen abwägt
- und im Sinne des größtmöglichen Nutzens entscheidet.
Macht er das nicht, macht er etwas falsch.
Das Modell hat immer recht
Mein Problem mit diesen expliziten Annahmen ist, dass sie auf impliziten Vorannahmen beruhen:
- Es gibt eine eindeutige Wirklichkeit, über die man eindeutige Informationen bekommen kann.
- Es gibt einen eindeutigen Zweck, der für die Entscheidungen den Richtwert gibt: Den besten Nutzen hat, was mit den geringsten Kosten die größte Wirkung für den Zweck entfaltet.
Nur wenn man diese Vorannahmen als gegeben hinnimmt, ist ein zweckrationaler Blick auf Organisationen hilfreich. Dann ist es möglich, ein ökonomisches Optimum als Zweck zu setzen und zu „berechnen“. Man kann dann Scientific Management betreiben: sich eine Organisation wie eine Maschine vorstellen, in der alle Räder ineinandergreifen und alle Teile auf das gleiche Ziel hin ausgerichtet sind. Die Menschen in der Organisation wissen, auf welche Weise sie Teil des Ganzen sind. Sie erhalten alle Informationen, die sie benötigen, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Im Zweifel finden sie Unterstützung in der Hierarchie, um im Sinne des größtmöglichen Nutzens zu entscheiden.
Das ist das Modell. Und wo eine Organisation nicht nach dem Modell funktioniert, ist nichts mit dem Modell verkehrt – sondern mit der Organisation.
„Was nützt du?“
Die Stärke des zweckrationalen Modells liegt in seiner Klarheit. Es suggeriert, dass jeder Bereich, jede Abteilung und jedes einzelne Mitglied einer Organisation eine klare Antwort auf die Frage geben „Was nützt du?“ geben kann. Und gemeint ist: „Was leistet du für unseren Gesamtzweck?“
Man kann aber die Frage “Was nützt du?”, die der Zweckrationalismus für sich in Anspruch nimmt, auch aus konstruktivistischer Sicht stellen – und erhält ganz andere Antworten. Denn der Konstruktivismus geht von anderen Vorannahmen aus. Grundlegend ist die Annahme: Jeder Mensch erfährt seine eigene Wirklichkeit. Man kann die gleichen Informationen hören, lesen, riechen und doch andere Zusammenhänge bilden. Die gleichen Wörter können für zwei Menschen ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. Wer diese Annahme testen möchte, kann zum Beispiel bei einem Geschäftsessen eine Diskussion über Agilität oder Künstliche Intelligenz beginnen – und fasziniert dabei zuschauen, wie erwachsene Menschen mit größtem Vergnügen 30 Minuten aneinander vorbeireden können.
Darum ist es aus konstruktivistischer Sicht eine besondere Leistung – also: nützlich! – diese Wirklichkeiten zusammenzubringen und gemeinsame Orientierung zu ermöglichen. Gerade Organisationen schaffen eine Menge Anlässe, bei denen es diese Orientierung braucht. Schon die Frage „Was erwartet man hier von mir?“, kennt keine eindeutige Antwort. Die Kolleg:innen erwarten etwas anderes als die direkten Vorgesetzten, als die Geschäftsführung, als die Kund:innen. Jede dieser Erwartungen folgt einer eigenen Rationalität, einer anderen Annahme darüber, was vernünftig ist. Der große gemeinsame Zweck ist weit weniger orientierend als die Unternehmenspräsentation uns verkauft. Vielleicht ziehen alle an einem Strang. Aber das tut man beim Tauziehen auch.
Es ist deswegen schon eine besondere Leistung, überhaupt Aufmerksamkeit dafür zu schaffen, dass diese unterschiedlichen Wirklichkeiten existieren. Sie dann auch noch zu vergemeinschaften, ist die Königsklasse. Und es ist eine bittere Ironie, dass das zweckrationale Modell ungeeignet ist, diese besonderen Leistungen anzuerkennen – ja, überhaupt wahrzunehmen.
Frau Jellinek muss weg
Machen wir es einmal konkret. Denn manchmal erbringen ganz konkrete Personen diese sozialen Leistungen, die sich als besonders nützlich für ihre Organisation erweisen. Sie sind mir häufiger in mittelständischen Unternehmen begegnet, am häufigsten in Familienunternehmen. Wir geben der Person einen Namen: Frau Jellinek. Frau Jellineks formale Rolle kann auf den ersten Blick überflüssig erscheinen. Vielleicht sind ihre Aufgaben redundant besetzt – und die andere Stelle ist offensichtlich kompetenter, sie zu lösen. Vielleicht ist ihr Arbeitsbereich so diffus beschrieben, dass offenbleibt, was sie eigentlich den ganzen Tag macht. Fragt man nun zweckrational „Was nützt uns Frau Jellinek?“, dann wird es schwer, zufriedenstellende Antworten zu geben. Denn mit dem Gesamtzweck scheint sie nichts zu tun zu haben. Womöglich ist es ein bullshit job, der gestrichen werden kann.
Doch die gleiche Frage, nur mit konstruktivistischer Brille gestellt, offenbart, wie wichtig eine Frau Jellinek fürs Unternehmen sein kann: durch die Orientierung, die sie gibt. Ich habe eine Frau Jellinek kennen gelernt, die eine wichtige Übersetzerin war: Sie hat zwischen den unterschiedlichen Wirklichkeiten der Vorstandsmitglieder vermittelt. Eine andere war die Vertrauensperson, die die Kluft der Hierarchie überbrückt: Wenn der Patriarch unnahbar war fürs mittlere Management oder die operative Ebene, dann konnten die Mitarbeitenden Frau Jellinek fragen, was nicht stimmt. Umgekehrt war sie dafür da, den Patriarchen mit ehrlichen Eindrücken aus seiner Organisation zu versorgen. Denn wenn er durch die Produktion ging und gefragt hat, war natürlich immer alles in Ordnung.
Die Formalstruktur ist blind für diese Probleme. Formal müssen Vorstandsmitglieder selbstständig kommunizieren, das ist ihre einzige Aufgabe. Formal müsste ein Patriarch und Geschäftsführer genau wissen, was in seiner Organisation passiert, denn man darf ihn nicht anlügen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, kann auch die Lösung fürs Problem nicht besprochen, erst recht nicht formalisiert werden. Was Frau Jellinek fürs Unternehmen leistet, muss also diffus beschrieben werden, als „die gute Seele“, „bereits Teil des Inventars“, „nicht wegzudenken“.
Doch wer den zweckrationalen Rotstift führt, hat für diese sentimentalen Ausbrüche nichts über. Da geht es um objektive Leistungen, objektive Zahlen, objektive Vergleiche. Dass sich durch die daraus folgenden Entscheidungen das subjektive Erleben aller Mitarbeitenden um Unternehmen verschlechtert, weil die gemeinsamen Grundlagen der Orientierung fehlen, ist dann im Endeffekt irgendetwas zwischen alternativlos und überraschend.
Wie es anders gehen kann; wie man wirklich vernünftig – also rational und nicht nur zweckrational – über Organisationen nachdenken kann, beschreibe ich im nächsten Teil der Reihe.
… to be continued…
Kommentar (1)
nur eine kleine rückfrage: sozialkonstruktivist im sinne von berger-luckmann?