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Der ganz formale Wahnsinn

Gefühle: Bitte nicht hier

  • Stefan Kühl
  • Dienstag, 22. November 2022
Gefühle

Warum persönlich, wenn es auch sachlich geht? Gefühle können eine Ressource sein, werden in der Realität von Organisationen aber meistens auf externe Experten oder in die Informalität abgeschoben. Und das ist auch gut so.

In vielen Managementkonzepten werden Gefühle als Ressource entdeckt. Es geht um die Aufladung der Organisation mit Emotionalität, sie wird regelrecht eingefordert. Sachargumente genügen in Organisationen nicht mehr, man muss auch über sich und seine Gefühle sprechen können. Nicht nur in vielen Organisationen der sozialen Hilfe oder religiösen Institutionen, sondern auch in nicht wenigen profitorientierten Unternehmen und Verwaltungen wimmelt es in Diskussionen inzwischen nur so von Ich-Botschaften und persönlicher Betroffenheit.[1]

Diese Gefühlsbetontheit in Organisationen überrascht. Denn lange Zeit ist davon ausgegangen worden, dass ein aktives Gefühlsleben der Mitglieder als eine Störung empfunden wird. In der radikalsten Form findet sich diese Auffassung bei Max Weber, der die „‚sachliche‘ Unpersönlichkeit“ als das zentrale Gebärden in Organisationen kennzeichnet. Diese Ausrichtung auf Unpersönlichkeit mache es möglich, dass sich eine Organisation wie eine „Maschine“ verhält, die durch „Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Diskretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten“ gekennzeichnet sei.[2]

Moderne Organisationen verzichten auf Totalinklusion

Das Verständnis von Organisationen als entpersonalisierte Systeme gewinnt auf den ersten Blick ihre Berechtigung, wenn als ein zentrales Merkmal angesehen wird, dass diese nicht die komplette Person inkludieren, sondern lediglich ein Teil des Leistungsrepertoires abfragen. Damit unterscheiden sich Organisationen in der modernen Gesellschaft in einem zentralen Punkt von ansonsten auffällig strukturähnlichen Konstrukten wie Gilden oder Klöstern. In diesen Gebilden, die in der stratifizierten Gesellschaft dominierten, hatte und hat man es mit einer weitgehenden Totalinklusion der Leistungsträger zu tun. Gilden oder Klöster nehmen für sich in Anspruch, Lebensgemeinschaften zu sein und dementsprechend auch alle Rollen eines Mitglieds zu definieren.[3]

Derweil sind Organisationen gegenüber ihren historischen Vorläufern durch eine doppelte Ignoranz gekennzeichnet. Auf der einen Seite kann eine Organisation private Anforderungen des Mitglieds zurückweisen. Die Frage um eine Gehaltserhöhung, weil man ein neues Haus gebaut hat, erscheint genauso illegitim wie die Bitte, nicht entlassen zu werden, weil man eine Großfamilie zu versorgen hat. Auf der anderen Seite kann aber auch ein intern Mitwirkender erwarten, dass seine anderen Rollen die Organisation nur insofern interessieren, als dass sie möglicherweise Rückwirkungen auf die Mitgliedschaft haben. Der Mitarbeiter eines Unternehmens oder eines Krankenhauses kann erwarten, dass die Zugehörigkeit zu einer kommunistischen Partei, die Herkunft aus einem alten Adelsgeschlecht oder eine Vorliebe für Polyamorie von der Organisation ignoriert wird. Diese Entwicklung ist gleichzeitig auch für das soziale System funktional, weil sie sich bei der Auswahl von Mitgliedern auf für sie „relevante Kriterien“ beschränken kann. Sie kann sich auf die Aspekte konzentrieren, die für sie funktional sind – zum Beispiel Kompetenz, Zuverlässigkeit, Leistungsfähigkeit.

Gefühle sind Sache der Informalität oder externer Experten

Das alles führt nicht dazu, dass in Organisationen keine positiven und negativen Gefühle bei den Mitgliedern aufkommen. Das Leben in einer Organisation ist ja nicht immer lustig. Man braucht Ventile für die Frustration, indem man mit Kollegen über den Unsinn lästert, den die Vorgesetzten einem zumuten. Die Gefühle, die sich in der Formalstruktur aufbauen, werden im Informalen aufgefangen. Weil das Lästern in der Teeküche und nicht in einer Konferenz stattfindet, gefährdet es jedoch nicht die Formalstruktur, sondern stützt sie unter Umständen sogar. Die Informalität dient als Reparaturwerkstatt für die Gefühlsschäden, die die Formalität der Organisation anrichtet. Man weiß als Angehöriger sehr genau, in welchen Situationen es angemessen ist, Gefühle zu zeigen und in welchen nicht.

Diese Probleme lassen sich empirisch beobachten. Wenn ein Untergebener im Gespräch mit seiner Vorgesetzten anfängt zu weinen oder wütend wird, ist das belastend. Tatsächlich sind solche Situationen für beide Beteiligten peinlich, weil sie gegen die an der Formalstruktur orientierten Verhaltenserwartungen verstoßen. Das gilt für überschießende positive Gefühle genauso wie für Ärger oder Enttäuschung. Deswegen schützen sich Organisationen vor diesen Emotionsausdrücken. Wenn sich die emotionalen Ausbrüche von Mitarbeitern wiederholen, kann das Unternehmen versuchen, sich von diesen zu trennen. Ist das nicht möglich, bildet das System Spezialeinheiten für psychosoziale Betreuung aus. Dort wird versucht, das eskalierende Gefühlsleben zu bearbeiten und es gegebenenfalls zu isolieren. Die Störung wird an Experten für Gefühlsausbrüche verwiesen, um die Funktionsfähigkeit der Organisation zu sichern.

Gefühle können jedoch formal eingebettet werden

Im Prinzip ist nichts dagegen einzuwenden, wenn auch durch formale Entscheidungen Inseln eingerichtet werden, die es ermöglichen, die Gefühle bei der Arbeit organisatorisch zu bearbeiten. Gerade im Umgang mit Patientinnen oder Klienten in Hospizen, Krankenhäusern, Jugendhilfeeinrichtungen oder in der Psychiatrie entstehen bei den Mitarbeitern zwangsläufig teilweise sehr heftige Gefühle. Weil an diesen Grenzstellen professionelle Distanz besonders notwendig ist, wird es von vielen Organisationen als wichtig eingeschätzt, die aufkommenden Gefühle in Supervisionen systematisch zu bearbeiten. Die Unterscheidung zwischen privater und organisationaler Rolle wird dabei aber nicht verwischt, sondern systematisch reflektiert und – wenn notwendig – wiederhergestellt.

Problematisch wird es hingegen, wenn mit der Vorstellung von Emotionen als Ressource eine neue „Gefühligkeit“ in Organisationen gefordert wird. Das wird spätestens dann schwierig, wenn die Äußerung, durch ein Argument in seinen Gefühlen verletzt worden zu sein, als Instrument in einer Debatte benutzt wird.

[1] Dieser Beitrag basiert auf Überlegungen, die ich in einem Interview mit Peter Laudenbach entwickelt habe. Siehe Stefan Kühl: Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht. Interview von Peter Laudenbach 2019. Online unter: https://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2019/gefuehle/warum-sachlich-wenn-es-auch-persoenlich-geht.

[2] Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1976, 578 und 561f.

[3] Siehe dazu Alfred Kieser: From Ascetism to Administration of Wealth: Medieval Monasteries and the Pitfalls of Rationalization. In: Organization Studies 8 (1987), 2, S. 103–123; Alfred Kieser: Organizational, Institutional, and Societal Evolution. Medieval Craft Guilds and the Genesis of Formal Organizations. In: Administrative Science Quarterly 34 (1989), S. 540–564.

Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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