Zum Hauptinhalt der Webseite
Podcast Die Humanisierung der Organisation

#5 Elementare Verhaltensweisen

  • Judith Muster
  • Kai Matthiesen
  • Andreas Hermwille
  • Dienstag, 15. November 2022

Der Umgang mit Regeln ist für Organisationsmitglieder nichts Neues. Elementare Verhaltensregeln gelten auch in der Familie, im Freundeskreis oder im Club. Die direkte zwischenmenschliche Begegnung kommt jedoch anders als Organisationen ohne Formalität aus. Wir sprechen darüber, wie Regeln des Alltags von Organisationen (aus)genutzt werden, auf die Organisation zurückwirken und zugleich Mitgliedern helfen, wenn die Organisation versagt.

Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von Spotify zu laden.

Inhalt laden

Andreas Hermwille: Wie gehen Organisationen mit Regeln des alltäglichen, gesellschaftlichen Verhaltens um?

Judith Muster: In der Organisation können viele Dinge, die in der Gesellschaft für gelingende Interaktion wichtig sind, ersetzt werden durch formale Strukturen. Zum Beispiel ist man als Vorgesetzter nicht mehr auf Achtung angewiesen, weil man vorgesetzt ist. Achtung bringt man jemandem gegenüber, weil man die Kompetenzen schätzt oder einer Person folgt, weil man an sie glaubt. In Organi­sationen schreibt man vor, dass jemandem gefolgt werden soll aufgrund seiner hierarchischen Stellung.

Deswegen sollten eigentlich viele Dinge, die „elementar“ wichtig sind, in der Organisation an Bedeutung verlieren. Aber mal sind die Regeln nicht perfekt, oder es bleiben unregelbare Lücken zurück. Dann kommen die elementaren Verhaltensweisen ins Spiel.

Verschwörerisches Grillen stärkt den Teamgeist

Andreas Hermwille: Ihr konntet in erstaunlich vielen Industrie-, Handwerks- und Logistikunternehmen eine Tradition beobachten: Kolleg:innen treffen sich, um gemeinsam zu grillen. Und es scheint sehr wichtig zu sein, dabei sein zu dürfen. Im Buch beschreibt Ihr das sehr schön: Am Grill steht man nicht, weil man muss, sondern weil man will. Nicht die Chefs, sondern allein die Beteiligten entscheiden, wer dabei sein darf.

Kai Matthiesen: Das haben wir wirklich oft beobachtet. Die Zusammenkunft sollte am besten etwas Verschwörerisches an sich haben. Man grillt an ver­botenen Orten, wie beispielsweise auf dem Logistikgelände oder in der Werkhalle. Manchmal der Grill sogar vom Chef gespendet. Aber das macht das schon wieder fast ein bisschen langweilig. Am besten ist es, wenn man sich aus Metallteilen, die in der Produktion übrig geblieben sind, einen Grill zusammen­schweißt und dann auch noch am liebsten aus dem Hochofen die Kohle holt, um damit zu grillen. Und aus irgendeinem Grund gibt es dann auch noch sehr oft Pferdewurst.

Eine kleine widerständige Praxis stärkt die Identität

Andreas Hermwille: Und warum ist dieser Regelbruch hier so wichtig? Warum funktioniert es nicht, wenn der Chef den Grill spendet? Was geht dadurch verloren, wenn die Organisation dazukommt?

Kai Matthiesen: Ich glaube, es geht um die Selbstdarstellung. Es ist eine bewusste Distanzierung der Personen als Personen und als Gruppe, als Menschen außerhalb der Organisation. Die treffen sich zwar in der Organisation, aber es möchte sich ja niemand nur als Mitglied der Organisation, als funktio­nales Rädchen verstehen, sondern auch als Mensch, der souverän entscheiden kann, was er oder sie tut. Und diese Souveränität drückt sich darin aus, genau das zu tun, was vielleicht in der Organisation nicht gewollt wird. Also etwas aus eigenem freien Willen heraus zu machen. Es ist eine kleine widerstän­dige Praxis. Man lehnt sich gegen den Anspruch der Organisation auf und findet eine kleine Ecke, in der man nicht entdeckt wird, wenn man grillt.

Cliquen entlasten von organisationaler Unerträglichkeit

Andreas Hermwille: Was ergibt sich daraus für die Organisation? Warum ist das gut für sie?

Judith Muster: Man hat hier eine Form von Clique vor sich, also vertiefte Formen von Kollegialität. Die Bildung von Kollegialität kommt ja nur in Organisationen vor. Das ist nicht zu verwechseln mit Freundschaft, die außerhalb von Organisatio­nen vorkommt. Man merkt, ob man mit jemandem befreundet ist oder ob es nur kollegial ist, wenn man die Organisation verlässt. Wo man als Personen bekannt und im Austausch bleibt, war ist es Freundschaft.

Teamarbeit

Lasst uns keine Freunde sein

In einer Clique, speziell einer „Entlastungsclique“, stützt man sich gegenseitig und stellt die Achtung wieder her, die die Organisation verletzt hat. Das kennt man etwa davon, wenn man vom Chef oder der Chefin im Meeting brüskiert wurde. Da kann man in der Situation aufgrund der Hierarchie nichts gegen sagen. Aber dafür trifft man sich später in der Kaffeeküche und kann gegenüber in der Clique sagen: „Ich habe dem das jetzt durchgehen lassen, Ihr weißt ja, wie er ist.“ Damit hat man seine eigene Selbstachtung wiederhergestellt. Solche Arten von Mechanismen braucht die Organisation, damit das, was Organisationen mit Menschen machen, überhaupt erträglich ist.

Man darf sich nicht auf Kompensationsmechanismen verlassen

Andreas Hermwille: Und dass Organisationen es unterlassen, Sachen mit Leuten zu machen, die sie kompensieren müssen, ist keine Alternative?

Kai Matthiesen: Doch, natürlich ist es so, dass man versuchen kann, so zu organisieren, dass es weniger Schmerz gibt. Aber ganz wegkriegen wird man es nicht. Bevor man jedoch anfängt, die Kompensationsmechanismen aufzurufen oder mit denen zu leben, kann man überlegen, warum muss ich denn da irgend­was kompensieren? Wenn man etwa eine Chefin hat, die ihre Leute fertig macht, und diese es nur aushalten, wenn sie sich regelmäßig treffen und über sie herziehen – dann kann man überlegen, ob das wirklich die richtige Chefin ist.

Oder noch besser: Man kann sich überlegen, warum sie so austickt und ob man an den Ursachen etwas ändern kann: Den Anforderungen, ihrem Rollenzuschnitt, und so weiter.

Wie Hilfeleistungen die Probleme der Organisation verdecken

Andreas Hermwille: Spannend finde ich, dass elementare Verhaltensweisen die Organisation ergänzen, aber auch im Weg stehen können. Als Beispiele nennt ihr Hilfeleistungen oder Dankbarkeit. Dass es gar nicht nützlich für eine Organi­sation ist, wenn man untereinander andauernd zur Seite springt. Das ist für mich eine von den Sachen, die erst mal schwer verdaulich sind. Es ist doch eigentlich etwas Gutes, einander zu helfen?

Judith Muster: Hilfeleistungen sind deswegen nicht immer gut für Organisationen, weil man durch sie formal nicht mitbekommt, dass jemand sein Workload nicht schafft. Unsere Empfehlung ist natürlich auch nicht: Seid unfreundlich und lehnt es ab zu helfen.“. Wir weisen nur darauf hin, dass wenn die Organisation zu stark abhängig ist von persönlicher Leistung ihrer Mitglieder, dies keine stabile Lösung darstellt. Das ist dann eine personale Lösung, die nicht dauerhaft helfen kann.

Organisationen können Mitglieder zu Verhalten zwingen, das Alltagserwartungen widerspricht

Andreas Hermwille: Wenn ich an elementare Verhaltensweisen denke, dann gehören dazu ja auch Höfligkeitsformen. Leider gibt es ja Jobs, die voraussetz­en, dass man z. B. Leute nervt. Also Kaltakquise in der Fußgängerzone oder Ticketkontrollen. Darf man Personen schulen, gegen elementare Verhaltensweisen zu verstoßen?

Kai Matthiesen: Für so eine Aufgabe wie in der Fußgängerzone ist die Lösung recht einfach: Man sucht sich jemanden, der damit kein Problem hat und sich davor nicht scheut. Schwieriger wird es, wenn man in der Organisation eine Rolle hat, in der man immer wieder sich überwinden muss, anderen Leuten auf die Füße zu treten, damit sie etwas tun. Das erfordert dann tatsächlich Überwindung.

Das gilt vor allem für Führungskräfte. Sie haben die Aufgabe, die Mitglieder der Organisation dazu zu bewegen, das zu tun, was sie gemäß ihrer Rolle tun sollten.  Da ist man als Führungskraft darauf angewiesen, die Höflichkeiten und Rück­sichtnahmen, die man zuhause gelernt hat, für einen Moment zu vergessen.

Elementare Verhaltensweisen haben in Organisationen andere Vorzeichen

Judith Muster: Was ich persönlich sehr interessant finde, ist zu beobachten wie elementare Verhaltensweisen Interaktionen in Organisation sich neu verankern, aber dann unter anderen Vorzeichen wirken. Niklas Luhmann macht dazu ein Beispiel am Thema Scherz. Über Scherze lacht man normalerweise, wenn sie witzig sind. In Organisationen lacht man über Scherze, wenn sie von Hierarchen kommen.

Kai Matthiesen: Das ist ein wunderbares Beispiel, weil das auch wiederum zurück schwappen kann: Und Chefs tatsächlich meinen, dass sie lustig sind. Dann wundern sie sich, dass sie im privaten Kontext diese positive Resonanz nicht bekommen. Wenn man auch auf andere elementare Verhaltensweisen schaut, funktioniert das dort auch ähnlich. Das nächste, was ich besonders spannend finde, ist Achtung. Sie wird hergestellt, wenn Personen dafür wahrgenommen werden, was sie getan haben. Das ersetzt die Organisation durch Hierarchie.

Judith Muster: Oder auch durch Arbeitsteilung. Ich muss den Vertriebler nicht besonders dafür schätzen, dass er Vertrieb macht, da es seine Aufgabe ist. Wenn ich jetzt aber außerhalb der Organisation jemandem eine Leistung zuge­stehe, kann daraus Achtung entstehen. In Organisation geht man davon aus, dass die Leute ihre arbeitsteiligen Aufgaben schon erledigen. Man sagt zwar noch „Danke“ – aber der Mechanismus dahinter spielt keine Rolle mehr.

Wenn es in Organisationen plötzlich wieder dazu kommt, dass Dankbarkeit ein zentraler Mechanismus ist, dann kann das etwa an zu geringer – oder keiner – Bezahlung liegen. Das kennt man etwa aus der Vereinsarbeit Da muss man dann den Ehrenamtlichen sehr gestenreich danken, weil man sie eben gar nicht bezahlen kann. Der Vergleich unterschiedlicher Organisationstypen hilft dabei. Man sieht dann, wie elementares Verhalten spezifisch umgewandelt wird und was passiert, wenn die Organisation das nicht genug sicherstellen kann.

Dankbarkeit zeigen zu müssen ist anstrengend

Kai Matthiesen: Eine Arbeitsorganisation sollte ohne Dankbarkeit auskommen können – die Geste ist dann nur noch die Kirsche auf der Torte. Denn wenn Dankbarkeit zum wichtigen Mechanismus wird, wird es problematisch. Das Beispiel aus unserem Buch ist dazu der Abschnitt „Streuselkuchen. Eine Führungskraft fährt mit dem Auto hunderte Kilometer weit, um der Schichtmann­schaft einer völlig anderen Abteilungen Bleche von Streuselkuchen zu bringen – damit diese zu Überstunden bereit ist und die Maschinen rechtzeitig liefert. Das gehört eigentlich nicht in Organisationen rein, sondern es ist Symptom dafür, dass die Organisation da irgendwas nicht richtig im Griff hat.

Menschen müssen von Extraleistungen entlastet werden

Judith Muster: Man kann das hier noch einmal betonen: Uns geht es nicht darum, dass Verhaltensweisen wie Achtung, Dankbarkeit, Tauschen, Hilfeleistung oder Scherz in Organisationen nicht auch vorkommen dürfen. Es geht darum, dass Personen durch so ein Verhalten stark strapaziert werden können und dass sie durch besseres Organisieren entlastet werden können. Menschen müssen möglichst entlastet werden von Extraleistungen, die das System von ihnen zusätzlich verlangt. Und elementare Verhaltensweisen sind solche Extraleistungen.

Kai Matthiesen: Man sieht auch im Fall mobiler Arbeit häufig, dass elementare Verhaltensweisen genutzt werden. Führungskräfte versuchen mit Personen eine persönliche Beziehung aufzubauen, um Dankbarkeits- oder Abhängigkeits­verhältnisse zu erzeugen. Dadurch soll die Person außerhalb des Büros wieder unter Kontrolle gebracht werden. Das ist einerseits anstrengend für die Führungskräfte, und als gezieltes Mittel eingesetzt, ist es übergriffig.

Wie kann man elementare Verhaltensweisen durch Struktur ersetzen?

Andreas Hermwille: Was ist denn dann eine Möglichkeit, wie eine Organisation elementare Verhaltensweisen durch Strukturen ersetzen kann?

Judith Muster: Das kommt auf den Fall an. Als Führungskraft müsste man sich fragen, warum man es nicht schafft, auch ohne den Streuselkuchen Gefolg­schaft zu erzeugen? Warum ist es wichtig, Motivation per Streuselkuchen und per persönlichem Kontakt herzustellen? Vielleicht gibt es dafür keine gute Antwort. Aber wenn es eine andere Antwort gibt, dann kann ich mir vorstellen, dass der Führungsstab weniger anstrengend werden könnte.

Kai Matthiesen: Bei diesem konkreten Beispiel war es tatsächlich so, dass die Produktionslogik entkoppelt war von der Projektlogik. Die Projekte waren kundenorientiert und mussten zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig werden. Und die Produktionslogik war: wir produzieren hier in einem Rhythmus durch und lasten die Schichten optimal aus. In dieser Taktung wird nichts umpriorisiert. Das war für uns damals das Symptom dafür, dass etwas geändert werden muss. Also man kann nie Marktlogik und Produktionslogik einfach aneinander angleichen. Aber man kann einen Dialog zwischen der Produktion und den Projektleuten herstellen, damit eine andere Priorisierung durchgeführt werden kann. Das ist dann eine Strukturlösung, die die elementare Verhaltensweise ersetzen kann.

Dr. Judith Muster

verfolgt den Anspruch, dass eine gute soziologische Analyse immer auch witzig sein sollte.

LinkedIn® Profil anzeigen

Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augen­merk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisations­mitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

LinkedIn® Profil anzeigen

Andreas Hermwille

freut sich wenn er eine Frage findet, die Geschichten als Antwort haben.

LinkedIn® Profil anzeigen