Wir sind es gewohnt, soziale Beziehungen in Organisationen vor allem unter Nutzenerwägungen zu thematisieren. Damit bleiben jedoch Möglichkeiten der Organisation ungenutzt. Wir zeigen, dass Organisationen Ressourcen verschwenden, wenn sie darauf verzichten, die Mitarbeiter:innen (auch) als moralisch Handelnde (und nicht nur als Nutzenstreber:innen) anzuerkennen und zu behandeln. Und wir zeigen, was postbürokratische Organisationen diesbezüglich falsch machen können.
Das Problem: Arbeitsvermögen in Arbeit transformieren
Der Einsatz von Maschinen hat für Organisationen jedweder Art einen großen Vorteil: Ihre Einsatzbereitschaft ist allenfalls ein technisches Problem. Maschinen können an- und abgeschaltet werden. Wenn sie gut konstruiert sind, leisten sie, was man ihnen aufgibt. Das vielfältige Leistungsvermögen des Menschen ist dagegen Fluch und Segen zugleich. Menschen können Erstaunliches, sehr Unterschiedliches und schwer Programmierbares leisten – wenn sie denn wollen.
Zum Glück wollen sie meistens. Organisationen funktionieren in vielen Bereichen reibungslos, weil die Beschäftigten sich selbstverständlich einsetzen, ihren Job machen oder sich auch über das geforderte Maß hinaus engagieren. Aber in manchen Bereichen, Situationen oder Feldern verweigern sie sich, stellen Bedingungen oder bleiben passiv. Die Wissenschaft verbucht das unter dem Begriff „Transformationsproblem von Arbeitsvermögen in Arbeit“.
Der Arbeitsvertrag ist nur eine unvollständige und vorläufige Lösung
Die Betriebswirtschaftslehre und die Organisationssoziologie haben das Transformationsproblem lange aus dem Fokus gedrängt, indem sie sich auf den Arbeitsvertrag konzentrierten. Per Arbeitsvertrag akzeptierten Beschäftigte, dass andere über sie entscheiden. Gegen Entgelt würde die Mitgliedermotivation vom Systemzweck getrennt (Luhmann 1964) und es entstände eine Indifferenzzone (Barnard 1938). Innerhalb der Indifferenzzone akzeptierten die Beschäftigten Anweisungen, Programme und formale Regeln, solange sie vom Arbeitsvertrag gedeckt sind. Wer sich dagegen wehre, riskiere seine Mitgliedschaft. Er oder sie verlässt die Organisation oder wird entlassen.
In dieser Perspektive gerät zweierlei aus dem Fokus: Es gibt einen Unterschied zwischen freiwilliger und erzwungener Akzeptanz von Arbeitsvertrag und Formalität. Arbeitsverträge sind oft asymmetrisch, meist zugunsten der Arbeitgeber:innenseite, und sie sind immer unvollständig, wie die neue Institutionenökonomik besonders betont. Zudem bleiben die Grenzen der Indifferenzzone verschwommen. Arbeitsverträge, Stellenbeschreibungen und formale Regeln können die Grenzen und den Inhalt der Indifferenzzone selbst nur eingeschränkt fixieren. Es bleibt eine tägliche Aushandlung, was die Einzelne tut und wie sie es tut.
Und dieses day-to-day bargaining erfolgt in zwar stets wechselseitigen, aber zumeist asymmetrischen Machtbeziehungen. Chef:innen und Kolleg:innen müssen weiter darum ringen, wie was gemacht wird, auch wenn eine grundsätzliche Leistungsbereitschaft existiert. Es gibt also eine Menge Grau zwischen Weiß – Mitgliedschaftsbedingung erfüllt – und Schwarz – Arbeitsvertrag gekündigt. Zudem ist der Schritt von der Indifferenz – es ist mir gleichgültig, was ich mache – zum Mangel an Initiative womöglich ein kleiner.
Letztlich wird mit der Trennung von Mitgliedermotivation und Systemzweck das Transformationsproblem von Arbeit also nur verschoben. Die Folgeprobleme kommen später. Die Beschäftigten verpflichten sich vertraglich dazu, ihre Arbeitskraft einzusetzen und sich dem Systemzweck zu unterwerfen. Wie genau sie das tun, muss offen bleiben.
In postbürokratischen Organisationen verschärft sich das Problem
In bürokratischen Organisationen gelingt die Unterwerfung unter den Systemzweck noch halbwegs. Postbürokratische Organisationen müssen aus mindestens vier Gründen andere Wege finden.
- Beschäftigte sind in postbürokratischen Organisationen nur eingeschränkt bereit, den Weisungen von Hierarchen qua Position zu folgen. Begründungen mit einem „Weil ich es Ihnen sage“ abzubrechen, wird immer weniger akzeptiert.
- In postbürokratischen Organisationen verschwimmen Über- und Unterordnungsverhältnisse, Verantwortungsübernahme und Bezahlung sind lose gekoppelt.
- Beschäftigung ist dank Projektbezug regelmäßig temporär und oft genug auch prekär. Wo Beschäftigung temporär und prekär ist, stehen Loyalität und Vertrauen gegenüber der Auftraggeberorganisation (immer wieder) zur Disposition und liegt der Exit jederzeit näher.
- Beschäftigte suchen postbürokratische Organisationen, weil sie – unter dem Stichwort New Work – Mitwirkung und Selbstbestimmung verlangen, statt Unterwerfung und Anweisung. Der Vorbehalt, ob, für was und wie man sich einsetzt, ist also für postbürokratische Organisationen konstitutiv. Anweisungen und explizite Begründungsabbrüche sind im Selbstverständnis von New Work nicht vorgesehen und lösen mindestens Unverständnis aus.
Leistung und Moral als Tausch oder Gabe
Nun erheben postbürokratische Organisationen regelmäßig den Anspruch, moralisch höher zu stehen als bürokratische Organisationen. Sie dienten – wie Purpose Driven Organizations – einem höheren Zweck, oder sie behandelten ihre Mitglieder besser, wie New Work-Organisationen behaupten. Man könnte also die These wagen, dass Organisationsmitglieder durch Moral dazu bewegt werden könnten, ihre Indifferenzzone zu vergrößern. Sie würden dann Fremdbestimmung und Anweisung akzeptieren und sogar mehr leisten als arbeitsvertraglich vorgesehen. Das würden sie, weil sie einem moralischen Zweck dienen oder weil die Organisation bzw. ihre Vertreter:innen moralisch agieren (so Courpasson/Dany 2003). Doch kann das sein? Das würde bedeuten, dass Organisationen bzw. ihre Vertreter Moral als Instrument zur Überwindung oder wenigstens Reduzierung des Transformationsproblems einsetzen könnten.
Grob gesprochen lässt sich Moral als der Sinn für die Belange des/der Anderen und für das Gemeinwohl auffassen. Es geht um die Antwort auf den Anspruch des/der Anderen, inkl. der Rücksicht und Würdigung ihres Sinnes für Moral. Auf den Punkt gebracht wird das durch die unscheinbare Wendung „Bitte nach Ihnen!“ Doch worauf beruht der Anspruch? Wenn Organisationen oder Führungskräfte Moral als Instrument einsetzen, widerspricht das dem Grundgedanken moralischen Handelns. Man handelt moralisch, weil der/die Andere einen Anspruch darauf hat, nicht um im Gegenzug etwas dafür zu gewinnen. Moral dreht sich in diesem Sinne nicht um Berechnung und Tausch, sondern um eine Gabe.
Moralisches Handeln kann nicht Gegenstand von Tausch sein
Wenn Moral als Instrument eingesetzt wird, also mit der impliziten oder expliziten Forderung nach mehr Einsatz, entsteht ein Tauschverhältnis. Zum Wesen des Tauschs gehört aber, dass die eine Leistung um der Gegenleistung willen erfolgt. Wenn Vorgesetzte aber nur im Dienste eines solchen „Um-zu“, nur aus Berechnung „anständig“ handeln, werden auch die Beschäftigten nur soweit gehen, wie die Moral der Vorgesetzten. Das jedenfalls dann, wenn die Beschäftigten reflektieren, dass die Organisation (oder die Chefin) aus Kalkül handeln. Wer als Chef:in Moral nur instrumentell einsetzt, muss damit rechnen, dass die Organisationsmitglieder sich ihrerseits nur instrumentell und berechnend verhalten. In einem solche Setting setzt sich das Tauschkalkül durch, weil die Führung mit entsprechendem Beispiel vorangeht. Eine „Ethik der Gabe“ verlangt stattdessen nach Erwiderung jenseits der Kalkulation.
Beschäftigte setzen sich aber regelhaft über das bezahlte Maß hinaus ein. Sie orientieren sich eben nicht nur an der Eigen- oder Bereichslogik, sondern oft genug auch am organisationalen Gemeinwohl – oder an dem, was sie dafür halten. Deshalb können und sollten die Organisation bzw. die Verantwortlichen auf moralisches Handeln nicht verzichten.
Sie können und sollten sehr wohl auf die moralischen Commitments der Akteur:innen und auf ihre Bereitschaft setzen, Gaben zu erwidern. Sie sollten nicht Organisationsmitglieder auf das Niveau von (Eigen-) Nutzenmaximierer:innen reduzieren und ihnen den Sinn für das moralisch Richtige absprechen.
Beschäftigte handeln allerdings moralisch in der Hoffnung, dass auch andere moralisch handeln. Organisationen verschwenden Ressourcen, wenn sie auf moralisches Handeln verzichten. Gleichwohl gehört es zum Wesen der Moral, dass sie sich im Sinne einer generalisierten Reziprozitätsnorm nur dann auszahlen kann, wenn die Gegenleistung nicht kalkuliert wird. Das bedeutet: Moral als Ressource ist ein paradoxes Potenzial. Sie zu instrumentalisieren, verdirbt sie. Sie nicht anzuerkennen, liefe auf eine Missachtung der Organisationsmitglieder hinaus, denen dann ja nur Eigennutz zugetraut würde. Und das Potenzial nicht auszuschöpfen, wäre – Verschwendung.
Literatur:
Banard, C. (1938). The Functions of the Executive. Cambridge, Mas.
Courpasson, D./Dany, F. (2003). Indifference or Obedience? Business Firms as Democratic Hybrids. Business Firms as Democratic Hybrids. In: Organization Studies 24 (8), S. 1231-1260.
Luhmann, N. (1964). Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin.