Es ist nicht einfach, der Kultur einer Organisation auf den Grund zu gehen. Kultur ist nicht entscheidbar, dadurch auch nicht gut besprechbar. Zum Glück liefert die Organisationssoziologie eine Heuristik, die hilft, den relevanten Phänomenen nachzugehen. Wir nennen sie die Suchscheinwerfer der Organisationskultur.
In dieser Reihe stellen wir diese Suchscheinwerfer vor. Dieser Artikel bespricht informale Rollen.
Unter informalen Rollen verstehen wir Rollen, die in der formalen Mitgliedsrolle nicht vorgesehen sind, die es aber trotzdem braucht und die sich daher vielfach in der Informalität etablieren.
Während formale Rollen zum Beispiel durch offizielle Dokumente wie Stellenbeschreibungen, Organigramme und Arbeitsverträge definiert sind und also einmal entschiedene Aufgaben, Verantwortlichkeiten und Erwartungen umfassen, entstehen informale Rollen aus den faktischen Interaktionsmustern und Verhaltenserwartungen zwischen den Mitgliedern einer Organisation. Diese Rollen sind also nicht offiziell festgelegt, spiegeln aber die Verhaltensmuster, Beziehungen und Einflussstrukturen wider, die das tägliche Tun (auch) strukturieren.
Etwa die Figur der heimlichen Herrscherin: eine Person, die wie eine Führungskraft Einfluss nimmt und entscheidet, ohne formal mit diesen Aufgaben betraut oder für sie mandatiert zu sein. Solche informalen Rollen bilden sich in Reaktion auf die formale Struktur aus – etwa, wenn in einer jungen, schnell wachsenden Organisation unterhalb des Gründungsteams formal keine Führungsebene existiert, es im täglichen Tun aber ständig zu kritischen Momenten kommt, in denen Orientierung fehlt.
Informale Rolle: Rolle, die in der formalen Mitgliedsrolle nicht vorgesehen ist, die aber wichtige Systemfunktionen erfüllt.
Das geschieht, weil man mit dem Nachziehen von Strukturen schlicht nicht hinterhergekommen ist, oder im Glauben an den Zauber der Selbstorganisation nicht hinterherkommen wollte. Dann fragt man sich vielleicht, ob der polternde Großkunde den geforderten Rabatt bekommen soll oder nicht, ob das Produktportfolio lieber in die eine oder andere Richtung erweitert werden soll oder wo das Teambudget besser angelegt ist – in Sales-Trainings oder in Online-Ads. Wenn es dann immer wieder dieselbe Person ist, die in diesen Momenten in Führung geht, Vorschläge macht und dafür auch Unterstützung mobilisiert, bildet sich nach und nach deren informale Führungsrolle aus. Das kann große Vorteile haben, weil das Team so orientiert und entlastet wird, birgt aber auch Gefahren – womit wir bei den Funktionen und Folgen wären.
Welche Funktion erfüllt es für die Organisation?
Die Funktion formaler Rollen ist das Aufrichten von und das Sich-Ausrichten an der formalen Struktur, die eine Organisation für sich entschieden hat. Klar formulierte formale Rollen erleichtern die Koordination und Steuerung innerhalb einer Organisation, weil sie den Mitarbeitenden einen Rahmen dafür geben, was von ihnen erwartet werden kann und wird – und was nicht. Dieser Rahmen wird gesetzt durch die formalen Mitgliedschaftsbedingungen, wie sie zum Beispiel im Arbeitsvertrag formuliert sein können und die man zu erfüllen hat, um die eigene Mitgliedschaft nicht zu gefährden.
Je mehr sich eine Organisation formalisiert, je rigider also der Rahmen wird, in dem sich der Einzelne bewegt, desto stärker kommt es zu einer Ausdifferenzierung von informalen Rollen. Und umso wichtiger wird das, denn auch die informalen Rollen erfüllen eine bedeutende Funktion in Organisationen: Sie erhalten oder erhöhen die Elastizität des Systems im Ganzen und die Verhaltensflexibilität der Mitarbeitenden im Einzelnen – und zwar innerhalb der formalen Struktur, ohne sie dabei direkt infrage zu stellen oder zu untergraben.
So kann etwa ein Assistent der Vor-ständin im richtigen Moment ein mutiges Papier zur Zukunft der Organisation zuschieben und damit die Agenda des nächsten Vorstandsmeetings beeinflussen, obwohl die Unternehmensstrategie formal eigentlich in einem ganz anderen Ressort aufgehängt ist – und der Weg für neue strategische Ideen also eigentlich sehr viel gewundener. Tut er das regelmäßig und hat damit Erfolg, werden andere ihre Ideen zu ihm bringen: eine informale Rolle (nennen wir sie „Strategie-flüsterer“) ist geboren.
Wenn informale Rollen entstehen, ist das häufig ein Zeichen für Lücken in der Formalstruktur. So entstehen Adressen, wo Zuständigkeiten unklar sind, weil jemand als „Kümmerer“ oder als „Jack of all trades“ einspringt. Oder man etabliert eine informale Arbeitsteilung – „Du managst die Kundenerwartungen, ich mache das interne Stakeholdermanagement“ –, wo eigentlich gemeinsame Verantwortlichkeit vorgesehen war, weil man so effizienter oder spezialisierter arbeiten kann.
Welche Folgeprobleme bringt es mit sich?
Formale und informale Rollen befinden sich permanent in einem dynamischen Wechselverhältnis und können in Spannung geraten oder sogar zu Konflikten führen, wenn sie in ihrer jeweiligen Dynamik nicht gut genug verstanden und/oder gemanagt werden. Konflikte entstehen zum Beispiel dann, wenn die durch die formalen Strukturen vorgegebenen Rollen und Erwartungen und die davon abweichenden faktisch gelebten Rollen in einen zu starken Widerspruch zueinander geraten.
Das kann geschehen, wenn eine neue formale Führungskraft in einer Abteilung auf eine schon lange etablierte informale Führungskraft stößt. Wenn jemand situativ eine flapsige Bemerkung macht, die in einem informalen Setting mit einem Kollegen in der Kneipe vielleicht tolerabel wäre, in der formalen Organisationsöffentlichkeit aber nicht. Oder auch, wenn für Einzelne oder Gruppen aus informalen Zuständigkeiten und Zugängen Machtressourcen entstehen, die quer laufen zur eigentlichen formal vorgesehenen Verteilung von Führungsmitteln – und das in der Zusammenarbeit spürbar wird.
Um dieses Spannungsfeld produktiv zu machen, lohnt es sich, den jeweiligen spezifischen Funktionen von informalen Rollen oder Verhaltensweisen in bestimmten Situationen und Kontexten nachzuspüren: Wofür ist das jeweils eine Lösung oder welchem Bedürfnis trägt das jeweils Rechnung? Je nachdem, wie gut oder schlecht man mit den Folgen leben kann, gilt es dann, dafür eine andere äquivalente Lösung zu finden – oder eben auch nicht.
Diese Fragen sollte man sich stellen:
- Welche informalen Herrschenden gibt es?
- Wer sorgt für Führungsimpulse jenseits eigener Zuständigkeit?
- Welche „Hierarchieflüsterer“ können Entscheidungen auf den Weg bringen?
- Wer wird auch abseits seiner/ihrer Zuständigkeit konsultiert?
Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Whitepaper „Nagelt den Pudding an die Wand! Wie man die Kultur der eigenen Organisation analysiert, bespricht – und erfolgreich beeinflusst. Das ganze Whitepaper steht hier kostenlos zum Download bereit.