„Gefragt, was denn dem Zweifel eine Grenze setze, sagte Do (im Buch der Wendungen à la Brecht): Der Wunsch zu handeln.“
Der Wunsch zu handeln – nicht: die guten Gründe.
Entscheiden heißt vielmehr, sich über den Mangel an guten Gründen hinwegzusetzen – vielleicht mit dem guten Grund, dass Unentschiedenheit auch eine Wahl impliziert: die Wahl, sich nicht zu entscheiden und die Dinge treiben zu lassen.
Der Mangel an guten Gründen wiederum bedeutet eine wohlbekannte und doch weithin schwer unterschätzte Wahrscheinlichkeit von Fehlentscheidungen. Immerhin, im Lichte späterer Einsicht kann man die Entscheidung korrigieren. Die Oszillation zwischen Versuch und Irrtum darf als vernünftig gelten, weil wir nur so voran kommen, per aspera ad astra. Aber sie kann teuer werden.
Für die unter Edzard Reuter getroffene Entscheidung, Daimler-Benz in einen diversifizierten, integrierten High-Tech-Konzern zu verwandeln, schien es in den achtziger Jahren gute Gründe zu geben. Ölkrisen, Verkehrsstaus, Umweltprobleme und die Sättigung des Automobilmarktes hatten es nahegelegt, das Unternehmen nicht auf einem Bein, dem Autogeschäft, stehen zu lassen. Die AEG, Dornier und MBB schienen vielversprechende Akquisitionen. Daraus wurde ein gigantischer Fehlschlag. Reuters Nachfolger Jürgen Schrempp („Maximo Lider“, wie Hilmar Kopper ihn in Bewunderung nannte) sorgte nicht für eine milde Korrektur, sondern verfolgte die genau entgegengesetzte Strategie, sich auf das Kerngeschäft zu konzentrieren, den Automobilbau, und diese Position durch Fusionen und Zukäufe innerhalb der Branche (Chrysler, Mitsubishi, Smart) auszubauen. Seit sich auch das als Milliardengrab erwiesen hatte, musste Dieter Zetsche als Schrempp-Nachfolger das Steuer übernehmen, um seinerseits umzusteuern. Vita brevis, das gilt zumal für die Lebensdauer von Strategien.
Reuter, Schrempp, Zetsche – lauter entscheidungsfreudige Manager, die jedes Mal den Gestus zu wahren hatten, das einzig Richtige zu tun. Die unterdrückten Zweifel erleben eine Art Wiederkehr des Verdrängten erst Jahre später – artikuliert durch andere, in einer Art Arbeitsteilung bei der Vorbereitung des nächsten Irrtums. Die innerpsychische Oszillation via kognitive Dissonanz macht in solchen Fällen eine Metamorphose durch und nimmt die Gestalt einer beständigen Oszillation des strategischen Kurses an.
Daher definiert mein Lexikon gemeiner Gemeinplätze: Entscheidungsfreude ist verzögerte Entscheidungsschwäche. Entscheidungsstarke sind langsame Zweifler. Ihr Schwanken hat nur eine längere Amplitude. Sie strecken die Oszillationen. Sie merken, wie Odo Marquard, spät und haben lange Bremswege.
Und da die Zweifel von anderen artikuliert werden, von den respektiven Nachfolgern, können die Entscheidungsstarken ihr Gesicht wahren und, begünstigt durch die Undurchdringlichkeit der Vergangenheit, die Zweifel ignorieren, womöglich ein Leben lang. Ganz Entscheidungsstarke merken ganz spät und haben lebenslange Bremswege.
Erstmals in: Kunst des Entscheidens. Velbrück Wissenschaft Weilerswist 2011.
Wir danken dem Verlag für die Erlaubnis, den Text hier neu zugänglich zu machen!