Dies ist der fünfte Teil einer mehrteiligen Serie über Strategiearbeit. In der Reihe bereits erschienen:
- Was stoppt das „Weiter so“?
- Um taktlose Antwort wird gebeten
- Wir müssen reden!
- Aus Worten müssen Taten werden können
Ich gehe für diese Reihe von einer Organisation aus, die dringend etwas ändern muss. Im vorigen Teil ging es darum, wie Veränderungen nachhaltig werden. Dieser Teil diskutiert, welche Rolle eine rahmengebende Erzählung einnehmen kann.
Wenn ich für mich versuche festzumachen, was mich an Strategiearbeit fasziniert, dann bin ich schnell auf einer abstrakten Ebene. Es ist der Imperativ der Sachlichkeit, der mich anzieht. Eine einfache Fragestellung zieht komplexe Arbeit nach sich: Was muss sich ändern, damit die Organisation eine Zukunft hat? Dann differenzieren sich weitere Fragen aus. Was sollte sich ändern, ist aber unabänderlich? Was sind die zentralen Probleme, was Nebenschauplätze, die warten müssen?
Es ist Arbeit, bei der es um gute Argumente geht. Natürlich geht es auch um Timing, um produktive Workshops, kluge Dramaturgien und das Kuratieren der jeweils Teilnehmenden. Aber immer geht der Bezug zurück zur Sachebene. Auseinandersetzungen, bei denen zwei oder auch mehr Parteien sich darüber streiten, was richtig ist und darüber klagen, wie anstrengend es ist, dass die jeweils anderen ihre Sicht der Dinge als richtig verteidigen, mögen zwar emotional werden oder gar persönliche Angriffe enthalten. Aber am Ende geht es trotzdem um Informationslagen, um verschiedene lokale Rationalitäten, um Gewinn oder Verlust von Einfluss. Kurz: um Fragen, denen man sich sachlich und nüchtern gut annähern kann.
„Wir müssen das nur genau durchdenken“, kann als mein Grundsatz der Beratungsarbeit gelten, den ich auch so gegenüber Kunden ausdrücke. Als mir bei einem meiner ersten eigenen Strategieprojekte ein Kunde widersprach, war ich entsprechend irritiert bis empört. „Durchdenken ist gut, Herr Matthiesen“, sagte er mit schönstem Wiener Zungenschlag. „Aber wir müssen auch a bisserl manipulieren. Die Menschen wollen verführt werden.“
Das entsprach nicht meiner Art, zu arbeiten. Die grundlegende Annahme widersprach ja schon meinem Menschenbild: Wer möchte Blendwerk, wenn er Wissen haben kann?
Ich habe dagegengehalten – aber konnte nicht überzeugen. Die Entscheidung war also, die neue Positionierung des Unternehmens als Show zu präsentieren. Es wurde ein feierlicher, schon fast pompöser Akt, zu dem alle Mitarbeitenden geladen wurden. Eine Veranstaltungshalle wurde gemietet, zu einem Showroom umgestaltet, der die neuen Produkte der Marke präsentierte. Man leistete sich einen B-Promi, der auf der Bühne die Marke feierte. Zum Abschluss gab es einen Image-Film im Stil einer Mocumentary, der die Zukunft der Firma als Utopia zeigte. Alles würde besser werden, weil man mutige Entscheidungen getroffen und gemeinsam gehandelt hätte.
Ich habe mir die ganze Show erst mit Widerwillen angeschaut, musste aber schließlich doch sagen: Ich verstand die Funktion. Manche Aspekte von Organisation lassen sich nicht durch Durchdenken erschließen. Manche Ziele kann man nicht durch Argumente erreichen. Dann braucht es die gute Geschichte, den Glanz, die Verführung. Die Sachebene ist nicht gut geeignet, um das Gefühl auszulösen, Teil von etwas Großem zu sein und gemeinsam Großes erreichen zu können.
Neben diesem Effekt, der ein Ziel für sich sein kann, kann eine glanzvolle Erzählung auch Synergien mit der Strategiearbeit entwickeln. Für gemeinsame Anstrengungen ist es wichtig, dass es einen Begriff von Gemeinsamkeit überhaupt gibt. Und wenn Mitarbeitende ihre Arbeitsweisen überdenken und neue Wege erschließen sollen, dann ist es hilfreich, dass sie davon ausgehen, ihre Arbeit sei relevant – und es nicht egal ist, ob sie sich überhaupt bemühen. Schließlich braucht jeder Strategiewechsel auch Optimismus: Denn den Aufwand, etwas zu ändern, nimmt viel eher ein Mensch in Kauf, der sich davon eine bessere Zukunft verspricht.
Aber es ist eine nicht zu unterschätzende Herausforderung, den richtigen Ton zu treffen. Ich halte es etwa für zentral, dass Shows, Verführungen und gute Erzählungen nur Angebotscharakter haben. Das bedeutet: Die Mitglieder der Organisation erleben keinen Zwang, sich von der Darstellung überzeugt zu zeigen. Vielleicht geht die „Das macht uns aus!“-Erzählung komplett an dem vorbei, was Mitarbeitende tatsächlich als Charakter der Organisation erleben. Das ist in Ordnung. Dann wird immer noch Zusammenhalt darüber geschaffen, dass man sich gemeinsam über die realitätsferne Darstellung amüsieren kann. Vielleicht gibt es Mitarbeitende, die dem eigentlichen Firmenzweck indifferent gegenüberstehen – die also auch über eine Erzählung, wie der Zweck mit dem Wohl der Gesellschaft vernetzt sind, nicht abzuholen sind. Auch die müssen nicht überzeugt werden. Vielleicht sind sie stattdessen handlungsidentifiziert: Sie haben Freude an ihrem spezifischen Arbeitsbereich, machen gute Arbeit, und gehen auch jeden Strategiewechsel mit – solange man sie sonst in Ruhe lässt.
Das ist für mich eines der größten Risiken von Erzählungen, die aufs Gefühl und das Emotionale zielen: Es passiert sehr schnell, dass Angebote zu Appellen werden. Und plötzlich können Mitarbeitende nicht mehr wählen, wie ihre innere Haltung zu den Firmenwerten ist. Es beginnt auf der informalen Ebene durch soziale Sanktionen in Form von kleinen Spitzen. Es kann aber auch schnell formalen Charakter annehmen, etwa wenn ein Change Manager einem Team vorwirft, die Verkörperung der neuen Werte sei bei ihnen noch nicht zu spüren.
Ein anderes Risiko ist die Zweck-Mittel-Verdrehung: Die Inszenierung kann es erleichtern, die Ergebnisse der Strategiearbeit in den Alltag zu überführen. Aber sie kann die harte Arbeit auf dem Weg zu den Ergebnissen nicht substituieren. Eine gelungene Rahmenerzählung hat strategische Grundlagen, auf die sie sich bezieht. Das sorgt dafür, dass den Mitgliedern, die Fragen stellen wie: „Was heißt das denn jetzt konkret? Was soll sich denn jetzt wirklich ändern?“ auch Antworten bekommen.
Fast jeder Mensch in der Arbeitswelt weiß, was geschieht, wenn Unternehmen das Durchdenken abkürzen und sich die Strategieverkündung aufs Verführen stützt. Wenn die Show gelingt, sind die Mitarbeitenden begeistert, identifiziert, erfüllt vom Erleben des Großen und Ganzen. Dann sind sie bereit, die Dinge anders zu machen und etwas zu wagen. Vielleicht kann dieses Gefühl sogar über Wochen oder Monate anhalten. Aber dann stellt sich der Effekt ein, den Betroffene oft als „Versanden“ beschreiben: Irgendwie sollte es eine Transformation geben, aber die Aufbruchstimmung wurde vom unveränderten Alltagsgeschäft gedrückt. Irgendwie sollte alles anders werden – aber wenn man selbst versucht hat, es anders zu machen, hat die Organisation diese Versuche gekonnt ausgebremst.
Was dann übrig bleibt, ist eine Organisation, die von einer neuen Strategie erzählt hat, aber im rechten Licht besehen nie eine hatte. Das ist besonders bitter für die Mitarbeitenden, die emotionale Appelle persönlich genommen haben: Sie haben einer Show geglaubt, die doch nur ein leeres Versprechen war. Diese Mitarbeitenden werden sich genau überlegen, wie viel Engagement sie in den nächsten Strategiewechsel stecken wollen.
Gute Strategiearbeit kennt also keine Abkürzung.
- Sie muss damit beginnen, gute Gründe fürs Beenden der Normalität zu zeigen.
- Sie braucht ein offenes Suchen nach alternativen Handlungsmöglichkeiten, das nicht beim ersten naheliegenden Einfall endet.
- Die Handlungsmöglichkeiten müssen in einem Diskurs qualifiziert werden, sonst bleiben die Entscheidungen ohne Gewicht.
- Und schließlich müssen diese Entscheidungen entlang konkreter Anliegen von der strategischen Ebene auf die Praxis übersetzt werden.
Der Fokus bleibt bei der Sache. Gute Strategiearbeit ist nüchtern. Nur, wenn man vorsichtig ist und einen Bogen um emotionale Erpressungen macht – dann kann auch etwas Verführen nicht schaden.