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Matthiesen meint

Es ist jeden Tag Silvester

  • Kai Matthiesen
  • Freitag, 29. September 2023
Es ist jeden Tag Silvester

Diese Kolumne ist in erster Linie ein Realitätscheck. Ich beschreibe meine Realität, mein Erleben, und möchte herausfinden, ob andere mit mir diese Realität teilen. Es ist insofern vielleicht kein eindeutiges „Matthiesen meint“, sondern eher ein „Matthiesen fragt“, nämlich: Hat sich hier wirklich etwas verändert, oder empfinde ich es nur so? 

Diese Unsicherheit vorausgestellt, folgt jetzt die steile These: Wir sehen als Gesellschaft gerade dabei zu, wie das Prinzip der Verbindlichkeit erordiert – und das ist nicht gut. 

Anlass für mich, über erodierende Normen nachzudenken, war ein Kunde, der mich auf den letzten Metern vor einem persönlichen Treffen versetzt hatte. Es war ein persönliches Treffen, das mit weiter Anfahrt und einiger Vorbereitung verbunden war. Angesetzt für mittags, abgesagt am Morgen. 

Dies wird kein Herziehen über Kunden. Alle, die in der Dienstleistungsbranche arbeiten, wissen aus eigener Erfahrung, dass es ein Macht- und damit ein Verbindlichkeitsgefälle zwischen Kunde und Dienstleister gibt. Das zu ertragen ist Teil des gewählten Berufs. Doch da die Absage so kurzfristig, der Grund dafür so banal und damit die ausgedrückte Indifferenz gegenüber dem gemeinsamen Termin (und damit auch mir gegenüber, etwas persönliches Angefasstsein kann ich da vermutlich nicht abstreiten) so unverhohlen war, musste ich länger darüber nachdenken. 

Dann sah ich es überall: bei Teamleitungen, die ihre Teams sitzen lassen oder kurz vor Meeting-Start verkünden, dass sie nicht dabei sein werden. Bei Events, die möglichst „niederschwellig“ angelegt werden, um mit hohen Anmeldezahlen mehr Werbung machen zu können – wobei völlig offenbleibt, wie viele Teilnehmer faktisch dabei sein werden. Arztpraxen können sich nicht organisieren, weil gemachte Termine nicht eingehalten werden. Restaurants verlangen jetzt Mindestzahlungen, wenn Plätze reserviert werden, aber keiner erscheint… 

Auch im Privaten sehe und höre ich, wie wir Unverbindlichkeit einerseits wünschen – und andererseits von ihr genervt sind. „Wenn nichts dazwischenkommt“, „ich bin zu 80% dabei“, „plant mich mal vorsichtig ein“, sind semipermeable Zusagen, die immer noch ein Schlupfloch lassen. Man hat auch früher mal zugesagte Termine wieder abgesagt. Aber brauchte es bessere Gründe als Müdigkeit oder einen alternativen Zeitvertreib. (Oder täusche ich mich? Ist das wieder nur Verklärung der Vergangenheit?) 

Es erinnert mich an die teils absurden sozialen Verrenkungen, die man als junge Erwachsene im Vorfeld von Silvester gemacht hat (und die junge Erwachsene wahrscheinlich heute noch machen). Jeder möchte auf die besondere Party gehen, aber selten möchte man der sein, der sie ausrichtet. Denn bis zum Schluss bleibt unklar, wo sich der Mob hinwendet. Welche Party ist die relevante? Wo werden die Geschichten entstehen, die man sich noch in Monaten erzählt? Wo wird es peinlich leer bleiben?  Ausdrückliche Zusagen bleiben rar gesät. Stattdessen gibt es wohlmeinende Meinungsbekundungen („Das klingt spannend, wir sind uns noch nicht ganz sicher, ob wir in der Stadt sind – aber wenn, dann natürlich bei dir!“). 

Was einst nur einen Tag im Jahr schwer auszuhalten war, ist normal geworden. Jetzt ist jeden Tag Silvester.

Wer mir bis hier hin gefolgt ist, hat vielleicht auch noch Interesse, mit mir über die Ursache hinter dieser Erosion nachzudenken. Meine These ist, dass zwei Dinge zu einfach geworden sind, als dass wir als Gesellschaft noch gut mit ihnen umgehen können: Terminabsagen. Und Repriorisierungen. Beides braucht nur noch technische Kommunikation. Der soziale Teil bei der Anbahnung eines Treffens, einer Reservierung, irgendeines sozialen Vorhabens, ist nicht mehr nötig. Das macht einen enormen Unterschied.

Stellen wir uns vor, Absagen oder Nichterscheinen wären sozial massiv geächtet – es sei denn, die Absage wird im Gespräch – oder wenigstens telefonisch – ausgedrückt. Was würde sich ändern? Vermutlich würden erst einige Geselligkeiten gefüllter werden, mit lustlosen und müden Menschen, die zuhause bleiben wollten, die aber ein Gespräch über die Absage unangenehmer fanden als die Veranstaltung selbst. Dann würden wir im zweiten Schritt einen Einbruch an Zusagen erleben, weil Absagen so anstrengend und unangenehm geworden sind, dass man sich die Zusage besser zweimal überlegt.

Mit Repriorisierung ist es ähnlich. Das ist auch nur ein Business-Begriff für eine „Komm ich heute nicht, komm ich morgen“-Attitüde. Wenn es heute mit dem Meeting nicht klappt, greife ich es aus dem Kalender und lasse es auf einen anderen Wochentag fallen – bis es auch da weiter wandern muss. Insbesondere für virtuelle Treffen haben sich kurze Fristen der Repriorisierung normalisiert. Denn es gibt ja keine verlorene Zeit mehr mit Anreisen, keine vorbereiteten Besprechungsräume, keine Tischvorlagen. Dank digitaler Möglichkeiten und synchroner Koordination von so vielen Terminkalendern wie man es sich wünschen kann, rutscht der Termin geräuschlos und verlustfrei durch die Zeit. 

Doch mein Eindruck ist, dass wir uns hier in die Tasche lügen. Es ist kein Effizienzgewinn, nur weil das Verschieben des Termins so effizient geschehen kann. Denn gerade weil Verschieben so leicht ist, passiert es jetzt ständig.

Die Digitalisierung hat die technischen Transaktionskosten hinter Terminen ins Nirgendwo gedrückt. Leider sind dabei auch die sozialen Kontrollinstanzen eingerissen worden, was uns jetzt in eine irritierende Situation bringt: Technisch sind Vereinbarungen unglaublich billig. Doch auf der sozialen Ebene machen sie uns jetzt mürbe.  Wer diese traurige Realität mit mir teilt, den möchte ich gerne fragen: Was tun wir jetzt?

Autor
Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augen­merk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisations­­mitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

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Kommentare (2)

  1. Irina sagt:

    Absolut zutreffend „Die Digitalisierung hat die technischen Transaktionskosten hinter Terminen ins Nirgendwo gedrückt.“

    Ich bin davon überzeugt, dass wir, gerade weil es so einfach ist, Termine zu vereinbaren, viel mehr auf uns nehmen, als wir tatsächlich schaffen können.
    Zumindest wenn auch von uns erwartet wird, für den Termin gut vorbereitet zu sein, und auch beizutragen. Wir sind ständig in Terminen. Wer nicht in Termine ist, hat was verpasst.
    Und genau weil wir doch keine Zeit für gute Vorbereitung haben und manchmal gar nicht in der Lage sind was beizutragen, sagen wir kurzfristig ab. Und genau so sehe ich es auch: weil Verschieben so leicht ist, passiert es jetzt ständig.

    Die Vorbereitung bei einem persönlichen Termin mit einem Dienstleister kann auch erfordern, dass einige interne Vorgespräche mit den Beteiligten stattfinden. Also mehr Termine 🙂

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  2. Georg Martensen sagt:

    Ich teile die Einschätzung, dass es bei dem beschriebenen Phänomen wesentlich um einen Verlust an Verbindlichkeit geht, im Wortsinne also um ein Abreißen jener Strukturen, die uns bislang miteinander verbunden hatten. Ich verstehe dies so, dass es in der Essenz ein Resultat der Digitalisierung ist, von NULL oder EINS, von ON vs. OFF. Und hier spielt m.E. die zeitliche Dimension die entscheidende Rolle: Digitalisierung ist eben diskontinuierlich, sie entzweit und zerlegt das Gemeinschaftliche in Bestandteile und Abfolgen. Dasjenige, das im zeitlichen Erleben nicht rückführbar ist, die Emergenz, die Einbindung, das Involvement – der Kairos des Augenblicks – bleibt dabei auf der Strecke. Anschlusssicherung erfordert dann jeweils ein aktives Tun, ein Ein- und Ausschalten des Empfängers und des Senders und auch ein Abwarten, bis der je andere gesendet hat. Ich kenne dies als Irritation inzwischen aus zahlreichen Video-Meetings, wenn jemand z.B. plötzlich zustimmende, den Prozess und die dynamische Verbindung unterhaltende kurze Laute von sich gibt: Ein zustimmendes „Ja“, ein fragendes „Mmh“ lenkt sogleich die Aufmerksamkeit weg vom eigentlichen Sprecher und unterbricht den Fluss der Kommunikation der auf diese Weise eine Abfolge von Sequenzen und die Fragmentierung als neue Etikette erzwingt. – Die zahllosen Orchester- und Chordarbietungen während der Corona-Zeit waren da übrigens Meisterwerke der Synchronisation und der Antizipation von Latenzen. – Im Mailverkehr, bei WhatsApp usw. sind Diskontinuität und Latenz sozusagen integraler Bestandteil dieser unser soziales Miteinander inzwischen dominierenden Strukturen. Meine Einschätzung ist, dass diese Strukturen prägend sind für die Erosion des sozialen Miteinanders hin zur Form Nicht-, der Unverbindlichkeit: Der Einzelne ist nicht in situ zur Stellungnahme aufgefordert, also als Person nicht unmittelbar gefragt, woraus sich der Abriss des Verbindlichen und die Entkopplung des gemeinsamen Kontexts verstehen lässt.- Ein mögliches Gegenargument dazu könnte sein, dass die Diskontinuität in Zeiten der Postkutsche und des Briefeschreibens ein unvergleichlich sehr viel höheres Maß aufwiesen. – Ich vermute allerdings, dass es in diesen Strukturen ein intuitives Wissen um die Shortcomings gab, welches sich eben in der Weise des Schreibens – quasi kompensatorisch – in allerlei höflichen Wendungen ausdrückte; etwa als Hochachtungsfülle, als unthänigste Ehrerbietungen, als ein verbindendes „Ihr“, das mit einem hoffenden die Verbindung aufrechterhaltenden „verbleiben“ und etwa in den „verbindlichsten“ Grüßen, die auch die Frau Gemahlin miteinschlossen und nicht selten in der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen mündeten.

    Wenn die Strukturen sozialer Normen erodieren, werden wir zusehends der Geländer beraubt, die uns bislang wie selbstverständlich Halt gegeben hatten und deren Sinnzusammenhang wir vor allem dann ermessen, wenn wir uns dort vor das „Nicht-mehr“ gestellt sehen. Diesen Befund würde ich generalisieren wollen, d.h. er gilt z.B. auch für verflüssigte und sich verflüssigende Strukturen innerhalb von Organisationen. Was tun? Wenn der Halt der uns umgebenden Strukturen schwindet, müssen wir also zunehmend Halt in der eigenen Haltung finden.

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