Zum Hauptinhalt der Webseite
Der ganz formale Wahnsinn

Compliance: Die Gefahr der Bürokratisierung

  • Stefan Kühl
  • Montag, 27. März 2023
compliance

Skandale wegen Regelverletzungen oder Gesetzesbrüchen sind Wachstumsprogramme für die Compliance-Abteilungen, die Spezialist:innen für Regeltreue in Organisationen. Bei Bekanntwerden eines Skandals fordern die gleichen Politiker:innen in Talkshows, die über Jahre hinweg kreative Gesetzes­interpretationen geduldet haben, dass sich Organisationen strikt gesetzes­konform zu verhalten haben. Lobbyorganisationen für mehr Transpa­renz beklagen öffentlich die Schwächen der bestehenden Compliance-Systeme und fordern, dass die Spezialist:innen für die Regeleinhaltung nicht nur die Annahme von Geschenken und die Abrechnung von Spesen überwachen, sondern auch die Einhaltung von Umweltschutzstandards, Menschenrechten und Produktions­bedingungen kontrollieren sollten. Organisationen kommen dieser Aufforderung zum Ausbau der Compliance-Abteilung gerne nach, weil dadurch kostengünstig die eigene Legitimität wieder aufgebaut werden kann.[1]

Aber dabei gibt es ein Problem. Die Mitarbeiter:innen der Compliance-Abteilungen haben als Spezialist:innen für die Einhaltung von Regeln kaum Verständnis für die Funktionalität von alltäglichen Regelabweichungen. Compliance-Abteilungen sind für die Schauseite der Organisation notwendig, aber genau aus diesem Grund bekommen sie von den anderen Abteilungen auch immer nur eine Schauseite präsentiert. Die Anwesenheit von Mitarbeiter:innen aus der Compliance-Abteilung führt bei Workshops, in denen über die realen Arbeitsprozesse gesprochen werden soll, automatisch zu Zensurmechanismen, die man sonst nur bei dem Besuch von Topführungskräften beobachten kann. In den Compliance-Abteilungen sitzen deswegen meistens die Mitarbeiter:innen, die am wenigsten wissen, was im Unternehmen gerade los ist.

Nach einem Skandal erstellen Organisationen – nicht selten getrieben durch jene Abteilung für Compliance – neue formale Grundsätze, ohne das besteh­ende Regelwerk grundlegend zu überarbeiten. Selbst da, wo die formal­strukturellen Gesetzmäßigkeiten überarbeitet würden, komme es, so die Beobachtung, fast nie zu einem Ausdünnen des Regelwerkes, sondern eher zu einem „Vergenauern“. Es würden immer mehr Regelspezifikationen, Auslöse­bedingungen und Ausnahmen definiert, um endlich „Klarheit“ zu schaffen. Der Effekt wäre dann, dass die Formalstruktur der Organisation anfängt „nach innen“ zu wuchern.[2]

Organisationswissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass die Detaillierung der formalen Regeln, die Zuweisung von klaren Verantwortlichkeiten und die damit verbundenen weitreichenden Protokollierungspflichten zu einer erheblichen Verschärfung der üblichen Pathologien bürokratisierter Organi­sationen führen. Bei Polizeien führt die Erhöhung der Dokumentations­pflichten und eine damit verbundene verstärkte Überwachung durch Vorgesetzte dazu, dass Polizist:innen sich auf „Papierkriege“ konzentrieren. In Universitäten führt die Bestrebung, Mauscheleien bei der Besetzung von Professuren oder Rektoraten durch detailliertere Regeln und die Herstellung eines hohen Maßes an Transparenz zu verhindern, zu einem Anwachsen der auch öffentlich einsehbaren Dokumentationen.[3]

Diese Auswirkungen der Verfeinerung des formalen Regelwerkes sind besonders bei durch Skandale erschütterten Organisationen zu beobachten. Anfangs leiden die Organisationen an den durch die Gerichte angeordneten Straf­zahlungen, dem Weggang der für die Gesetzesverstöße verantwortlich gemachten Führungskräfte sowie dem Reputationsverlust in der Öffentlichkeit. Diese Effekte schleichen sich aber aus, weil sich die Verfahren vor Gerichten klären, neue Führungskräfte eingearbeitet werden und die massenmediale Aufmerksamkeit – nicht zuletzt durch bekannt gewordene Skandale anderer Organisationen – nachlässt. Immer deutlicher treten in diesen Szenarien in der Folge die Auswirkungen des verfeinerten formalen Regelwerkes und der verstärkten Regelüberwachung zutage: Die Organisation hat an Schnelligkeit in der Entscheidungsfindung eingebüßt und Flexibilität ist verloren gegangen. Die Delegitimierung jeder Form von Regelabweichung und -verletzung führt, so Sebastian Barnutz und Sven Kette, zu einer „unbrauchbaren Legalität“, sodass gar ein „Scheitern nach Vorschrift“ droht.[4]

Die Herausforderung besteht darin, die brauchbaren Illegalitäten so zu managen, dass bei ihrem Bekanntwerden eine Organisation nicht daran zerbricht.[5] Voraussetzung dafür ist aber auch, dass zugestanden wird, dass keine Organisation auf die alltäglichen Regelabweichungen verzichten kann und nicht jeder beobachtete Regelbruch sofort zu einer Bestrafung der Verant­wortlichen sowie der Abschaffung der Regelabweichung führen muss. In den meisten Organisationen mangelt es jedoch an Wissen, wie man in Einzelge­sprächen und Beobachtungsinterviews die informalen Prozesse erhebt, wie das Wissen so aufbereitet wird, dass es nicht gleich vom Immunsystem der Vorgesetzten abgestoßen wird, und wie man die Prozesse wenigstens teilweise in Workshops besprechbar und damit auch veränderbar macht. Das ist aber nötig, damit das Management signalisieren kann, welche „innovativen Wege“, „großzügigen Regelinterpretationen“ und „Ausnahmen von der Regel“ akzeptiert und erwartet werden und welche zu weit gehen. Letztlich scheitern Organisa­tionen nicht an ihren alltäglichen Regelabweichungen, sondern an dem unprofessionellen Management ihrer brauchbaren Illegalitäten.

[1] Siehe erstmals ders.: An VW wird das Falsche kritisiert. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (29.9.2015) Siehe auch ausführlich ders.: Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen. Frankfurt a.M., New York 2020, 127ff.
[2] Sven Kette, Sebastian Barnutz: Compliance managen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden 2019, S. 57.
[3] Siehe für die klassische Studie Frank Anechiarico, James Jacobs: The Pursuit of Absolute Integrity. How Corruption Control Makes Government Ineffective. Chicago 1996. 
[4] S. Kette, S. Barnutz: Compliance managen, S. 35.
[5] Siehe dazu auch Marcel Schütz, Richard Beckmann, Heinke Röbken: Compliance-Kontrolle in Organisationen. Wiesbaden 2018.

Autor
Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

LinkedIn® Profil anzeigen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Du interessierst dich für unsere Themen?

Mit dem VERSUS Newsletter halten wir dich regelmäßig über neue Artikel, Themen und Angebote auf dem Laufenden.