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Der ganz formale Wahnsinn

Entscheidungen: Zum Problem der zweifelnden Organisationen

  • Stefan Kühl
  • Montag, 8. Mai 2023
Entscheidungen

In vielen Organisationen wird die Meinung vertreten, dass eine gut durchdachte Entscheidung schon kraft der eigenen Rationalität zur Befolgung motiviere. Je intensiver ein solcher Entscheidungsprozess aufgesetzt werde, desto eher, so die Annahme, fühlten sich die Organisationsmitglieder ermutigt, das angestrebte Vorhaben auch in die Tat umzusetzen.

Diese Auffassung sei jedoch, so der Organisations­wissenschaftler Nils Brunsson, ein grundlegender Trugschluss.[1] Demnach sei gerade das Gegenteil der Fall: Je ausführlicher über die Folgen nachgedacht werde, in umso kritischerem Licht werde die getroffene Entscheidung gesehen. Durch die ausgeprägte Diskussion über die möglichen Konsequenzen würden bestimmte Bedenken überhaupt erst geweckt und in der Organisation verbreitet werden. Je mehr sinnvolle Handlungsalternativen dabei in einen Entscheidungsprozess einbezogen würden, desto zweifelhafter könne ebenso die Auswahl der getroffenen Alternative erscheinen. Warum sollte ich mich, so die naheliegende Frage, ausgerechnet für diese Entscheidung engagieren, wenn ich mich mit guten Gründen auch ganz anders entscheiden könnte?[2]

Dieses Dilemma von Entscheidungs- und Handlungsrationalität liegt darin begründet, dass das Treffen von Entscheidungen nicht nur die Funktion hat, eine „gute“ Auswahl zwischen verschiedenen Alternativen zu ermöglichen, sondern dass derartige Beschlüsse auch die Funktion haben können, zu einer ganz bestimmten Handlung zu motivieren.[3]

Organisationen stehen letztlich vor dem gleichen Problem wie eine Touristengruppe bei der Suche nach einer guten Kneipe: Je mehr Kneipen zur Auswahl stehen, eine größere Anzahl von Kneipenbesuchern an der Beschlussfassung beteiligt ist und man umso intensiver in diesem Rahmen über die Vor- und Nachteile der verschiedenen Gaststätten diskutiert, desto schwieriger wird nicht nur der eigentliche Entscheidungsprozess, sondern ebenso die angesichts des langatmigen Auswahlprozederes in Mitleidenschaft gezogene Begeisterung der genervten Beteiligten für den Besuch der letztlich ausgewählten Kneipe. Unter dem Gesichtspunkt der Handlungsmotivierung wäre es am besten, wenn sich einer hinstellte und verkündete, dass er eine hervorragende Kneipe kenne und auch schon Plätze vorbestellt seien.[4]

Dieses Entscheidungsdilemma bietet eine Erklärung, weshalb es in Organisationen so häufig zu auf den ersten Blick irrationalen Entscheidungsprozessen kommt. Es erklärt, warum in der Wahrnehmung in Organisationen häufig nicht zwischen Alternativen objektiv abgewogen wird, weswegen systematisch bestimmte problematische Folgen einer favorisierten Option ausgeblendet werden und wieso Zahlen so „hingebogen“ werden, dass sie für eine bestimmte Selektion sprechen. Diese weit verbreitete pragmatische Herangehensweise entspricht sicherlich nicht den bekannten Vorstellungen von rationaler Entscheidungsfindung, bringt jedoch den Vorteil mit sich, dass die letztlich getroffene Wahl als unproblematisch nach innen und außen verkauft werden und somit für die Handlung motivierend wirken kann.

Eine Entscheidung ziehe am ehesten dann Handlungen nach sich, so die Beobachtung von Brunsson, wenn in geschickter Weise nur die Auswahl zwischen zwei Alternativen – einer sehr überzeugenden und einer auf den ersten Blick wenig überzeugenden – aufgebaut werde, die Daten also so konstruiert würden, dass sie die eine Alternative stützten und die Nebenfolgen gleichzeitig systematisch ausblendeten. Diese Form der Entscheidungsfindung mag uns nach Vorstellungen der Entscheidungsrationalität irrational erscheinen, unter dem Gesichtspunkt der Motivierung zum Handeln ist sie aber handlungsrational.

Entscheider:innen in Organisationen stehen vor der misslichen Situation, dass sie auf der einen Seite mit einer intensiv abgewogenen Entscheidung sich selbst und die Mitarbeiter:innen für die Umsetzung dieser rationalen Entscheidung demotivieren, sich auf der anderen Seite aber auch nicht darauf beschränken können, ohne große Überlegungen eine Wahl zu treffen. Daraus folgt die Schwierigkeit, dass Entscheidungen in einem doppelten Sinne rational sein müssen. Auf der einen Seite muss der Prozess „entscheidungsrational“ organisiert sein, sodass eine gute Entscheidung zustande kommt. Auf der anderen Seite muss der Prozess aber auch so organisiert sein, dass er handlungsmotivierend wirkt.

[1] Nils Brunsson: The Irrational Organization. Irrationality as a Basis for Organizational Action and Change. Chichester et al. 1985, 59ff.

[2] Ders.: The Irrationality of Action and Action Rationality: Decisions, Ideologies, and Organizational Actions. In: ders. (Hrsg.): The Consequences of Decision Making. Oxford, New York 2007, S. 32–49, 68f.

[3]  Ders.: The Organization of Hypocrisy. Talk, Decisions and Actions in Organizations. Chichester 1989, 189ff.

[4] Zur Strategie des „satisficing“ siehe Herbert A.Simon: Rational Choice and the Structure of the Environment. In: Psychological Review 63 (1956), 2, S. 129–138, hier S. 129.

Autor
Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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Kommentare (2)

  1. Frank Druhm sagt:

    Entscheidungen werden in Organisationen selten außerhalb eines Regelwerks und eines Methodismus (Clausewitz) getroffen und durchgesetzt. Verantwortlichkeiten sowohl für die Entscheidungsfindung ist organisiert (allgemein oder im Einzelfall) als auch als Ergebnis der Entscheidung festgelegt. Beide Aktivitäten werden getragen von Führung, von der/den Führungsperson(en). Der Entscheidungsvorgang setzt auf der Anaylyse, einer Beschreibung eines Sachstands, einer Lageorientgierung, auch der Erwartung und Wahrscheinlichkeit von Friktionen auf. Es hängt von der Stringenz des organisationalen Regelwerks und von qualitativen Zielsetzungen ab, wieviel Raum eine Entscheidung für nachfolgendes Handeln lässt, wieviel Freiheitsgrade bei der Durchführung undn Zielerreichung eines Auftrags, des Entscheidungsergebnisses vorgehen ist. Jede Entscheidung kreiert weitere neue Entscheidungen.

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  2. Peter Dieng sagt:

    Mit frisierten Daten zu arbeiten, ist ziemlich gefährlich. Sind gescheite Leute unter dem Fußvolk des Betriebs, dann durchschauen sie das Spiel, bei dem eine Alternative gezielt auf unattraktiv, die andere auf geradezu ideal hin frisiert wurde. Das spricht sich dann schnell herum und vernichtet nicht nur das Vertrauen in das Projekt, sondern auch den Glauben ans Management, beides zieht die Motivation in den Keller. Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Gut, das Management wird zwar noch versuchen, die gescheiten Kritiker schnellstmöglich mundtot zu machen mit subtilem Druck, damit keiner durch sie erfährt, dass der Zauberer von Oz nur ein kleiner erbärmlicher Mann hinter einem Vorhang ist. Aber das klappt in der Regel nicht, weil bei denen da oben viel zu spät ankommt, dass einer der Mitarbeiter ihren manipulativen Plan durchkreuzt und allem und jedem im Betrieb erzählt, welche Daten wie frisiert wurden. Umgekehrt ist es natürlich interessant zu wissen, dass man bei der Zielauswahl Zweifel nährt, wenn man möglichst viele Mitarbeiter an einer Entscheidung beteiligt, und dass genau das zum Hemmschuh werden kann. Man liest ja in der Managementliteratur andauernd: Ihr müsst die Leute ins Boot nehmen, Ihr müsst möglichst jeden einbeziehen, beteiligen, erst dann tragen alle, aber auch gar alle im Betrieb eine Entscheidung mit. Offenbar klappt das in der Praxis nicht so, wie es in den Büchern geschrieben steht und versprochen wird. Meine Erfahrung ist die: Wenn alle wissen, dass einer ein gutes Gespür für gute Kneipen hat und sich in der Stadt gut auskennt, dann hat er Autorität bei der Kneipenauswahl. Ihm folgt man dann gerne, weil man weiß, dass es ein schöner Abend wird, wenn man auf ihn hört. Er ist der Affe, der weiß, wo die Wasserstelle ist, ihm trotten alle hinterher. Ihm vertraut man. Aber solche Affen hat man nicht so oft in der Horde, den zuverlässigen Wünschelrutenaffen, was auch daran liegt, dass die Wasserstellenwelt zu komplex geworden ist für nur einen Affenkopf. Wer die Wasserstelle nicht kennt, die Horde aber anführt, verteilt lieber die Entscheidungen, für die er die Verantwortung hat, auf viele Schultern und ist selbst nur halbherzig dabei, den Beschluss der Vielen umzusetzen. Er sorgt aber dafür, dass man den Eigentümern des Betriebs in jedem Fall gekonnt vorspielt, dass man kurz davor ist, eine neue Wasserstelle zu finden und hochmotiviert daran arbeitet. Da muss die ganze Horde mitspielen bei diesem Affentheater. Dafür müssen sie motiviert sein. Wenn das Affentheater gut inszeniert ist, dann ist er zufrieden. Daher ist es wichtig, eine Entscheidung zu finden, die sich den Eignern gut verkaufen lässt durch Affentheater. Das wird dann bald zum Hauptantrieb bei der Entscheidungsfindung, wenn die Horde das mal verinnerlicht hat. Die Eigner dürfen den Glauben ans Gelingen nicht verlieren von Entscheidungen, die man für sie getroffen hat. Der Anführer der Horde schaut sich derweil nach einer anderen Horde um, die er anführen kann, die nächsten drei Jahre. Vorerst.

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