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Der ganz formale Wahnsinn

Zwecke: Das Scheuklappen­prinzip von Organisationen

  • Stefan Kühl
  • Freitag, 10. Februar 2023
zwecke

Organisationen sind fantasiereich, wenn es um die Formulierung von Zwecken geht. „Wir steigern unseren Marktanteil in China von 5 auf 10 Prozent“, „Im nächsten Jahr reduzieren wir unseren Ausschuss um zehntauschen Teile pro Jahr“ oder „Unser Management sorgt dafür, dass alle Mitarbeiter bei uns glücklich sind und deshalb nie mehr als zehn Mitarbeiter pro Monat das Unter­nehmen verlassen“. Derlei Zweckaussagen finden sich in Unternehmen, genauso wie in Gewerkschaften die Zweckaussagen zu hören sind: „Achthundert neue Mitglieder in drei Monaten gewinnen“ oder „Beim Streik in der Stahlbranche sind Lohnsteigerungen von mindestens 2,5 Prozent herauszuholen“.[1]

Wenn Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäuser oder Armeen sich auf die Suche nach ihren langfristigen Zwecken begeben, dann bezeichnen sie das gern als „Zielfindung“ oder „Strategieentwicklung“. Scheinbar klingt in den Ohren von Praktikern „Strategieentwicklung“, „Strategieprozess“ oder „Strategiefindung“ besser als „Zweckentwicklung“, „Zweckprozess“ oder „Zweckfindung“. „Strategie“ mit seiner etymologischen Herkunft von Strategós, dem Feldherrn oder Kom­mandanten, weckt offensichtlich positivere Assoziationen als der eher in der Philosophie verortete Begriff der Zwecksetzung. Gemeint ist aber genau das Gleiche. Welche Funktion erfüllen Zwecke, Ziele oder – wenn man es im Management-Slang ausdrücken möchte – Strategien in Organisationen?

Man kann sich die Funktion von Zwecken in Organisationen an einem kleinen Gedankenexperiment deutlich machen: Prinzipiell hat eine Organisation die freie Auswahl, für welchen Zweck sie sich entscheidet. Sie könnte arme Kinder in der Dritten Welt mit kostenlosen Medikamenten versorgen und dafür Spenden in der Bevölkerung sammeln. Sie könnte aber ebenso ihre eigene Profitabilität dadurch erhöhen, dass sie besorgten Eltern teure, aber wirkungslose Vitamincocktails verkauft. Sie könnte alternativ, weil dort vielleicht die Profitraten höher sind, statt medizinischer Vitamincocktails Milchmischgetränke für Kinder vertreiben oder aber den Vertrieb von Cocktails für Kinder lediglich als Mittel dafür nutzen, um eine frühkindliche Aufklärung über gesunde Ernährung zu betreiben. Sie könnte sich jedoch ebenso dafür entscheiden, dass ihr Kinder völlig egal sind, und stattdessen die Interessen von freiberuflich tätigen Fensterputzern vertreten, die Geschichte eines Stadtteils zu rekonstruieren oder die nächste Mission zum Mond vorzubereiten. Was die Auswahl von möglichen Ausrichtungen betrifft, bewegt sich eine Organisation, wenn auch nur theoretisch, in einem unbegrenzten Reich der Möglichkeiten.

Aber selbst, wenn die Mittel und der Wille zur gleichzeitigen Erreichung all dieser Ziele vorhanden wären, sieht die Organisation sich gezwungen, sich auf lediglich eine oder zwei dieser vielen Möglichkeiten zu konzentrieren. Spätestens dann, wenn Debatten darüber aufkommen, welches Ziel bei Konflikten zwischen den Zielsetzungen bevorzugt oder für welche Ziele besonders viele Ressourcen zur Verfügung gestellt werden sollten, wird die Organisation ihre eigenen Möglich­keiten immer weiter einschränken. Die letztlich genauen Festlegungen werden als „Zwecksetzungen“ einer Organisation bezeichnet.

Zwecksetzungen sind also immer eine frappante Verengung im Horizont einer Organisation. Sie konzentrieren die Perspektive auf einige wenige, dafür aber umso wichtiger erscheinende Aspekte und blenden alles andere aus. Bei jeder Zwecksetzung wird ein Aspekt – man könnte auch Wert sagen – als ganz beson­ders herausgehoben, der immer auf Kosten der Ignorierung, wenn nicht sogar Schädigung einer Vielzahl anderer möglicher Aspekte geht.

Der ganz formale Wahnsinn

Werte: Zum Nutzen konsens­fähiger Formulierungen gegenüber handfesten Zwecken

Insofern lassen sich Zwecke, Ziele oder Strategien als „Scheuklappen“ der Organisation bezeichnen.[2] Genauso wie Pferde aufgrund der seitlichen Position der Augen ein sehr weites Sichtfeld haben, haben auch Organisationen – jedenfalls prinzipiell – die Möglichkeit, ihren Horizont fast beliebig zu erweitern. So wie aber die Blendklappen bei Pferden verhindern, dass sie von der Seite oder von hinten abgelenkt werden, unterbinden Zwecksetzungen, dass Organi­sationen durch eine Vielzahl anderer Möglichkeiten irritiert werden.

Durch ihre Scheuklappen gewinnt eine Organisation auf dem “Bildschirm“ ihrer Zwecke ein stark vereinfachtes Bild ihrer Umwelt.[3] Ist das Ziel eines Unter­nehmens, Marktführer für Computerfestplatten zu werden, dann braucht es sich über alternative Märkte, wie den für Bildschirme oder Rechnereinheiten, keine Gedanken zu machen. Hat eine Armee den Zweck, die eigene Bevölkerung vor Angriffen benachbarter Staaten zu schützen, dann braucht sich die Armee­führung über divergierende Zwecke, wie die Bekämpfung von Aufständen im Inneren oder die Vorbereitung von Militärinterventionen im Ausland, keine Gedanken zu machen.

Diese Verengung des Horizonts durch Zwecksetzungen hat eine wichtige Funktion: Sie fokussiert nicht nur die Kräfte auf die Erreichung des Zweckes, sondern mobilisiert und konzentriert zugleich den Einfallsreichtum, mit welchen Mitteln der Zweck am besten zu erlangen ist. Wenn sich eine Fakultät für Soziologie das Ziel setzt, die „besten“ Bachelorabsolventen eines Landes für ihr Masterprogramm zu rekrutieren, dann setzt dies bei Administratoren und Lehrenden Fantasien in Gang, mit welchen Anreizen man diese Studierenden für die Fakultät gewinnen könnte. Wenn ein Unternehmen das Ziel hat, zu den drei Weltmarktführern für landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge zu gehören, vergleicht es sich in einem sogenannten „Benchmarking“ mit anderen Unternehmen der Branche, um herauszubekommen, ob es vielleicht nicht noch geeignetere Mittel zur Produktion von Traktoren gibt.

In der Suchlogik gilt dabei das Sprichwort: „Der Zweck heiligt die Mittel.[4] Schließlich ist es ja die Funktion von Zwecken, möglichst viel Fantasie bei der Auswahl geeigneter Mittel zu mobilisieren, aber in der Regel ist die Auswahl der Alternativen, die zur Zweckerreichung eingesetzt werden dürfen, begrenzt. Wenn das Management eines Herstellers von Wasserkraftwerken als Zweck verkündet, die Märkte in Griechenland und der Türkei zu erobern, dann ist es zumindest fraglich, ob Bestechung als legitimes Mittel dafür akzeptiert werden würde. Es würde auch – jedenfalls in einigen Kulturkreisen – nicht als legitim angesehen werden, wenn Armeen zur Befriedung entfernter Landstriche am Tigris oder am Hindukusch alle nur denkbaren Mittel einsetzen und dabei den massenhaften Tod von Zivilisten in Kauf nehmen würden.

Für die Suche nach den besten Mitteln für einen Zweck wird in der Organisa­tionsforschung ein Wort verwendet: „Zweckrationalität.“ Die Rationalität bezieht sich dabei nicht auf die Auswahl des Zweckes. Dieser ist gesetzt. Vielmehr geht es um die Suche nach den geeigneten Mitteln für die Erreichung des Zweckes. Die Zwecke einer Organisation selbst können den Beobachtern höchst fragwürdig erscheinen: die Errichtung von Straflagern für politisch Andersden­kende, die Ausbildung von Selbstmordattentätern oder die Herstellung von Haarsprays. Trotzdem würde man der Organisation ein hohes Maß an Zweckra­tionalität zugestehen, wenn sie bei der Wahl der Mittel möglichst effizient und effektiv vorginge. Es handle, so eine prominente Formulierung des deutschen Soziologen Max Weber, derjenige zweckrational, der in seinem Handeln erst verschiedene Zwecke gegeneinander abwäge, dann die günstigsten Mittel zur Erreichung der definierten Zwecke wähle und in dem Auswahlprozess mögliche unerwünschte Nebenfolgen mit in Betracht ziehe.[5]

Von nicht wenigen Organisationsforschern werden die Zwecke als so bedeut­sam betrachtet, dass Organisationen für sie nichts anderes sind als Mittel zur Erreichung dieser Zwecke.[6] Aber so einfach ist es leider nicht. Zwar haben Zwecke in vielen Organisationen eine wichtige Strukturierungswirkung, aber häufig ist die Rolle von Zwecken in Organisationen viel komplizierter, als durch solche Definitionen suggeriert wird.

Organisationen bekennen sich häufig zu einer ganzen Sammlung unterschied­licher Zwecke und implizieren dabei, dass diese miteinander vereinbar seien oder sich gar gegenseitig stützen würden. Unternehmen definieren, dass das operative Geschäft Gewinne bringen soll, gleichzeitig aber neue Märkte erschlossen, grundlegend neue innovative Produkte entwickelt, die Mitarbeiter hervorragend behandelt und auch Leistungen für das Gemeinwesen erbracht werden sollen. Faktisch handelt es sich jedoch um konkurrierende Zwecksetz­ungen: Die Entwicklung neuer innovativer Produkte drückt den kurzfristigen Profit und damit die Möglichkeit zur Zahlung von Löhnen oder Steuern. Eine Erhöhung der Dividenden für Aktionäre kann häufig nur auf Kosten der Investitionen in die Entwicklung neuer Produkte, der Reduzierung von Lohn­zahlungen oder der Verminderung von Steuerabgaben erreicht werden.[7]

In einer fernen Zukunft, in einer konsequent umgesetzten Marktwirtschaft, in einer klassenlosen Gesellschaft oder im durch Gott geschaffenen Paradies, mag es sein, dass sich konträre Zwecke miteinander vereinbaren lassen. Bis dahin werden Organisationen jedoch durch eine Vielzahl widersprüchlicher Zwecke gekennzeichnet sein und allein schon deswegen damit leben müssen, dass ihre Struktur sich einer Durchrationalisierung entzieht.

[1] Ich greife hier auf meinen Text in S.Kühl: Organisationen, 44ff. zurück. Siehe auch S.Kühl: Strategien entwickeln.
[2] N. Luhmann: Zweckbegriff und Systemrationalität, S. 46.
[3] Ebd., S. 192.
[4] Ebd., S. 46.
[5] M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 13.
[6] Siehe nur beispielhaft aus unterschiedlichen Theorieperspektiven Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften 1990, S. 441.; Peter M. Blau, W. Richard Scott: Formal Organizations. San Francisco 1962, S. 5.; Amitai Etzioni: Modern Organizations. Englewood Cliffs, N.J. 1964, S. 3.
[7] Niklas Luhmann: Organisationen im Wirtschaftssystem. In: ders. (Hrsg.): Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen 1981, S. 390–414, hier S. 405.

Autor
Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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