Die geschriebene Geschichte der Formen der Produktion ist voller Mythen – wirkmächtiger Mythen.
Beispiel 1: Der Mythos Fließband, von Wirtschaftshistorikern entlarvt: Das Fließband war (zunächst) nicht eine Lösung, schon gar nicht die Lösung, sondern ein Problem, u. a. wegen der Maß- und Taktgenauigkeit, die es erforderte. Henry Ford hat denn auch seine berühmten Produktivitätsvorsprünge auf Highland Park zwischen 1909 und 1916 errungen, als er das Fließband noch gar nicht eingeführt hatte.
Beispiel 2: Die Erzählung von der „großen Erleuchtung“, die den Forschern während der Hawthorne-Experimente angeblich gekommen war und ihnen die „Entdeckung“ der Human Relations beschert haben soll, eine Entdeckung, die sie erst mittels erheblicher Uminterpretation der Ergebnisse „bewiesen“ haben.
Beispiel 3: Der Mythos enormer Produktivitätssteigerungen durch das US-amerikanische Eisenbahnnetz, der, von Nobelpreisträger Robert Fogel längst widerlegt, den common sense nach wie vor begeistert. Das wird beflügelt vom US-amerikanischen Frontier-Mythos, verfilmt u. v. a. von Sergio Leone – in Once Upon a Time in the West erreicht der Eisenbahnbau gerade Sweetwater mit seinem neu errichteten Bahnhof …
Beispiel 4: Der Mythos allgemeiner Produktivitätssteigerung via Computereinsatz, der im Lichte der These Meyer/Rowans als eine via Mythologie institutionalisierte, legitimationsfördernde Technik angesehen werden kann.
Das alles bedeutet nun nicht, dass, wie es die Rede von der Entlarvung insinuiert, das Lob dieser Techniken und Formen der Produktion Lüge wäre. Das Fließband, die Humanisierung der Arbeit, die Eisenbahn, der Computer haben selbstverständlich ihre Meriten erlangt, zumal ihre mythische Überhöhung ihnen die Zeit und viele, viele Möglichkeiten verschafft hat, besser zu werden. Gute Lösungen aber waren sie erstens nicht von Anfang an, zweitens nicht in der behaupteten Allgemeinheit, drittens nicht im allseits gläubig angenommen Maße und viertens nicht mit jener Selbstverständlichkeit und Unbezweifelbarkeit, die diesen „rationalisierten Mythen“ (Meyer/Rowan) attestiert zu werden pflegen. Sie verdankten ihren Siegeszug und die Aura selbstverständlicher Effizienz nicht zuletzt dem Glorienschein des respektiven Mythos, der die Probleme des Anfangs, der mangelnden Verallgemeinerbarkeit, des Ausmaßes (und der Messbarkeit) und verbleibender Komplikationen und Zweifel überstrahlt hat. Das wiederum ist nicht – nicht nur und immerzu – von Übel, sondern hat auch seine Funktionalität, und die liegt für Entscheider darin, dass Mythen als Entscheidungs- und Legitimationshilfen fungieren (können). Dessen sind wir alle bedürftig, mehr oder minder, ex- oder implizit.
Gute Entscheidungen wollen begründet sein, und das verstrickt sie in das von Hans Albert so genannte Münchhausen-Trilemma jedweder Begründung, besonders in die Problematik des drohenden infiniten Regresses: Es braucht Gründe, dann aber Begründungen für die Gründe, Gründe für Gründe für Gründe und so fort, ad infinitum. Die Paradoxie des – zu begründenden – Entscheidens liegt eben darin, dass es nötig ist, aber nicht restlos begründet werden kann. Genau da schaffen Fiktionen und besonders Mythen der Rationalität Abhilfe. Das ist von einem Autor herausgestellt worden, der nicht als Entscheidungstheoretiker, aber als der Philosoph und Denker der „Arbeit am Mythos“ bekannt ist, Hans Blumenberg. Ich zitiere (aus Präfigurationen, S. 9): „Das Phänomen der Präfiguration setzt voraus, daß die mythische Denkform als Disposition zu bestimmten Funktionsweisen noch oder wieder virulent wird.“ [1]
Sie ist „so etwas wie eine Entscheidungshilfe: was schon einmal getan worden ist, bedarf unter der Voraussetzung der Konstanz der Bedingungen nicht erneuter Überlegung, Verwirrung, Ratlosigkeit, es ist durch das Paradigma vorentschieden.“ Wie sind Autos zu bauen? Das war so oder auch anders möglich, kontingent, es hätte durchaus anders kommen können, wie Piore/Sabel in Das Ende der Massenproduktion gezeigt haben, aber der Mythos verhalf dem Fließband zu seinem Siegeszug und den Entscheidern zu einer scheinbar einfachen – präfigurierten – Antwort. Mythen entlasten von der Bürde des Entscheidens. So auch der Hawthorne-, der Eisenbahn- und der Computer-Mythos.
In einem Band mit dem Titel Organisation und Mythos (herausgegeben von Thomas Klatetzki und G. O., jetzt erschienen bei Velbrück Wissenschaft) [2] hat Stefanie Büchner das für die digitalen Technologien und den Mythos ‚Big Data‘ ausbuchstabiert, deren enorm förderliche mythologische Komponente in der Erzählung von ihrem Potenzial liegt. Die suggestive Rede vom Potenzial „strukturiert … die Sinngebung auf einer sehr grundsätzlichen Ebene, indem es kulturell-kognitive Legitimität stiftet … Es sorgt dafür, dass das Hineinragen der Zukunft in die Gegenwart nicht unverständlich, sondern im Gegenteil plausibel erscheint“ (S. 245 f), in einer „Kombination aus einem starken Ausgreifen auf Zukunft bei zugleich schwachem Mitführen der Voraussetzungshaftigkeit dieser Zukunft“ (S. 245 f), vulgo: via ungedeckten Wechsel auf die Zukunft. Entscheidungshilfe, Lückenbüßer der Begründung und Stifter von Legitimation.
Werbeeinblendung: Der Band enthält Beiträge über Organisationen als Höhlen (Ortmann) und als „eine Brutstätte von Geschichten“, wie Stephan Wolff darin sagt, u. a. von ihm, Dirk Baecker, Alfred Kieser, einer Philosophin und Blumenberg-Expertin (Maria Moss), zwei Metaplan-Kollegen (Maximilian Locher und Bennet van Well zu Mythen der Organisationsberatung) und den Herausgebern, die sich uneinig zeigen, ob nicht auch die (Rede von der) Organisation ein Mythos ist. Wichtige Mythen und mythische Gestalten des Organisierens haben ihren Auftritt, zum Beispiel Prometheus, Ikarus (man denke an Danny Millers The Icarus-Paradox), Sisyphos (Seitenblick auf Stefan Kühl, Sisyphos im Management) und der Sirenen-Mythos, der die ziemlich rationale Idee der Selbstbindung, konstitutiv für den modernen Staat und die moderne Organisation, als Erzählung transportiert, als Teil der Irrfahrten (sic) des Odysseus. „Wer zwei paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.“ (Georg Christoph Lichtenberg)
[1] Blumenberg, Hans (2014): Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos. Erste Auflage. Hg. v. Angus Nicholls und Felix Heidenreich. Berlin: Suhrkamp.
[2] Klatetzki, Thomas; Ortmann, Günther (2023): Organisation und Mythos: Velbrück Wissenschaft.