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Matthiesen meint

Es ist doch offensichtlich, was zu tun ist!

  • Kai Matthiesen
  • Freitag, 1. Dezember 2023
offensichtlich was zu tun ist

Einfache Aufgaben haben einen gefährlichen Charme. Das trifft zumindest dann zu, wenn man sie nicht mehr oft auf der Agenda hat. Wenn man nicht aufpasst, stellt sich im Dickicht der komplexen Aufgaben, die im Management und in der Management-Beratung den Alltag bestimmen, gegenüber der Idee, einfach machen zu können, eine gewisse Romantisierung ein. 

Einfache Aufgaben lassen keine Fragen offen. Es ist offensichtlich, was zu tun ist, das Wie ist restlos geklärt und man bring alles mit, um die Aufgabe einfach zu erledigen. Ohne einen Hauch Zweifel, ohne die Chance überrascht zu werden, lässt sich das gewünschte Ergebnis herstellen. Klingt das nicht fantastisch? 

Und es klingt gleichzeitig nach Hamsterrad. Was die Romantisierung unterschlägt, ist, wie einfache Arbeit über Zeit auf die Knochen geht. Und dass es zu leicht ist, für Jene, die nicht selbst die Handgriffe machen, sondern nur auf die Kosten-Nutzen-Rechnung schauen, zu sagen: „Das können die bestimmt schneller. Oder im gleichen Tempo, aber im kleineren Team. Ist ja kein Hexenwerk und offensichtlich, was zu tun ist.“ 

Der Zwang zur Effizienz rationalisiert auch den Charme weg – und in vielen Organisationen bleibt nur noch ein harter, gering entlohnter Job über, um den niemand zu beneiden ist. Dann ist es die „einfache“ Aufgabe, sich in ein besonders perfides Hamsterrad zu setzen: Eines, das von anderen gedreht wird. 

Viele Situationen der Arbeitswelt können hamsterradähnliche Züge annehmen, nicht umsonst ist die Metapher sehr beliebt. Mir scheint, sie ist besonders dafür gemacht, die Situation in einem Lager zu erfassen; die besondere Dualität zwischen Klarheit in der Aufgabe und der Unerbittlichkeit, dass sie geschafft werden muss.

In einem Lager wird es wenig geben, was einen noch nach Feierabend grübeln oder hadern lässt, ob es anders nicht doch besser gegangen wäre. Doch dafür ist der Druck, das Tempo des Hamsterrads, enorm. Egal ob es ein Lager im Retail, im E-Commerce oder bei industriellen Zulieferern ist, hier findet sich die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter der vorgegebenen Geschwindigkeit ausgeliefert. Das Rad dreht sich weiter, im immer gleichen Tempo – und auch wenn die Aufgaben einfach sind, sie müssen in diesem Takt gelöst werden. Es gibt keine Zeit für Fehler. 

Ich habe vor Kurzem wieder den Alltag in der Lagerlogistik erlebt. Deswegen ist es aktuell für mich schwer zu ertragen, wenn eine Purpose-Erzählung wieder die Extraschleife drehen muss, um den Mitarbeitenden in den höheren Büroetagen wenigstens ein kleines Stück weit erklären zu können, welchen Zweck es hat, morgens zur Arbeit zu kommen. Angesichts des Arbeitsalltags einer Lagermannschaft wirkt diese Notwendigkeit absurd. Denn hier kennt Jede und Jeder das Ziel: Die Ladefläche muss leer sein, die Kisten müssen in den Regalen stehen, bevor die nächste Lieferung kommt. Selbst Sprachbarrieren können das Verstehen nicht verhindern, Gesten reichen: Die Fläche steht voll. Die Regale sind leer. Und wenn wir uns nicht beeilen, landet die nächste Ladung nicht im, sondern vor dem Lager. Also: Los geht’s! 

Um es deutlich zu sagen: Das Problem ist nicht die Monotonie. In monotonen Abläufen steckt sogar ein gewisses meditatives Potenzial. Wenn Arbeitsabläufe gemeinsam beschritten werden können, wenn es möglich ist, einem Takt zu folgen oder man sich in den Handgriffen verlieren kann, kann auch so einfache Arbeit in einen Flow übergehen, den viele Menschen als euphorisierend erleben. 

Das Problem liegt im Sog, den diese unerbittliche Aufgabenstellung auf Menschen haben kann. Wenn im vorgegebene Zeitfenster die Pakete nicht gepackt oder die Regale nicht befüllt sind, dann stimmt offensichtlich etwas nicht: an der Personalstärke, am angesetzten Takt oder an der Länge der Wege, die zurückgelegt werden müssen. Für Außenstehende liegt nichts ferner, als beim Anblick von noch zu packender Ware oder zu räumender Ladung, die Verantwortung bei den Mitarbeitenden zu suchen, die doch offensichtlich so schnell und effizient sind. 

Doch für alle, die Teil des Systems sind, ist dieser Schluss absolut naheliegend. Wer seinen Job im Lager gut machen will – was „nur“ bedeutet, dass Ware beim Einräumen intakt bleibt, Kolleginnen und Kollegen nicht hängen gelassen werden und der nachfolgenden Schicht eine machbare Aufgabe übergeben wird – der hat keine andere Wahl, als Lebenszeit bei sich selbst zu stehlen. Dann scheint es besser, eine Stunde vor dem eigentlichen Schichtbeginn anzufangen – ohne sich einzustempeln (früheres Einstempeln lässt das System nicht zu: Arbeitsschutz.) Um eine Aufgabe zu erfüllen, die immer noch als simpel angesehen wird, erscheint es notwendig, eigene Bedürfnisse zurückzustellen und sich massiven Zumutungen auszusetzen. 

Der Sog einfacher Aufgaben ist so stark, dass sich die Arbeiterinnen und Arbeiter eine Scheißegal-Haltung förmlich antrainieren müssen. Die Ware fiel aus dem Regal wieder raus? Scheißegal, der Stapler kann drüberfahren. Die Entladestelle ist immer noch nicht frei? Auch das muss egal sein. Denn meine Schicht ist schon seit einer halben Stunde rum und ich sehe sonst meine Kinder nicht mehr, bevor sie ins Bett gehen. 

Es ist ein schmerzhafter Prozess, sich dem Imperativ des Systems, den zwingend zu erledigenden Handgriffen zu entziehen. Sich gegen Arbeit aufzulehnen, die sich aufdrängt, gehört zu den Fähigkeiten, die Menschen nie lernen sollten. Und doch müssen sie es. Denn sonst frisst das System ihre Lebenswelt. 

Es sollte Ziel aller Organisationsgestaltenden sein zu verhindern, dass ihr System diese Wirkung auf die Mitglieder der Organisation hat. Doch auch aufs Management wirkt ein Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann: der Sog optimierter Abläufe. Warum sollte ein langsamerer Takt veranschlagt werden, wenn der schnelle Takt noch „funktioniert“ (wenn auch zulasten der Mitarbeitenden, die dieses Funktionieren ermöglichen)? 

Gute Argumente, Organisationen in diesem Sinne zu verändern, gibt es genügend. Doch in Verhältnissen, die “rational“ und kennziffersortiert sind, sind diese Argumente oft nicht anschlussfähig.  

Vielleicht hilft diese Perspektive: Es ist gut, es ist human, die Zumutung des Zuviels von einfachen Aufgaben abzumildern. Wo das nicht geschieht, wird man das Problem lösen müssen, mehr Arbeit im Angebot zu haben, als es Nachfrage von Seiten der Arbeitnehmenden gibt. 

Autor
Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augen­merk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisations­mitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

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