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Matthiesen meint

Es könnte so einfach sein

  • Kai Matthiesen
  • Freitag, 1. August 2025

In den vergangenen Monaten habe ich mich hier mit den Unterschieden zwischen konventioneller (üblicherweise: zweckrationaler) Organisationsberatung und einem Boutique-Ansatz beschäftigt, dem auch Metaplan folgt: konstruktivistische, oder: diskursive Beratung.

So eindeutig, wie ich pro konstruktivistisch, contra zweckrationale Beratung argumentiert habe, könnten Leserinnen und Leser den Eindruck gewonnen haben, dass ich sehr gefestigt bin in meinen Überzeugungen. Aber diese Überzeugungen kommen immer wieder ins Wanken, üblicherweise dann, wenn mir wieder auffällt, wie viel Arbeit in unserer Art des Beratens steckt. Gerade im Vergleich damit, wie einfach man es mit zweckrationalem Vorgehen hat, ist dieses andere Ufer manchmal doch verlockend.

Ich könnte Zahlen als objektive Wahrheiten behandeln

Wie schön wäre es, kulturelle Veränderungen in einer Organisation quantitativ messen zu können! Die Idee widerspricht zwar allem, was aus der Forschung zu den Problemen solcher Messverfahren bekannt ist (von Verzerrungen durch soziale Erwünschtheit bis zur blanken Absurdität, Antworten auf hochkomplexe Sachverhalte auf ein „stimme teilweise zu“ eindampfen zu wollen) – aber warum nicht alle Argumente einfach zur Seite wischen und sagen: Egal, wir messen jetzt?

Kulturbarometer, Pulse Checks, Employee Movitation Surveys: Korrosive Energien werden aufgespürt, damit man sie abschaffen kann. Führungskräfte können ablesen, wie gut sie wirklich sind, jedenfalls aus Sicht der Mitarbeitenden (und ehrlich: Denen gönne ich ein bisschen Streicheleinheiten schon – macht ja sonst keiner) …

Für alles lassen sich Zahlen generieren. Wichtig ist nur, dass man beim Ausdenken der Zahlen schon weiß, was rauskommen soll. Dann hätte ich Zahlen, auf die ich zeigen könnte, die es auch den Auftraggebern leichter machen würden, in der Organisation ihr Anliegen zu verteidigen. „In nur einem halben Jahr ist der Wert für Veränderungsbereitschaft um 10 % gestiegen, erstaunlich!“

Ich könnte Sicherheit versprechen

Mit quantitativen Messungen im Gepäck wird noch etwas anderes leicht: das Versprechen von Erfolg. Wenn ich den Zustand der Organisation messen kann, kann ich auch ihre Bewegung messen.  Und gibt man sich ganz der Vorstellung hin, Organisationen seien stabile Systeme, bei denen alle Konstanten bekannt, alle Variablen kontrollierbar sind, dann ist es nur folgerichtig anzunehmen, man könne auch ein genaues Ziel setzen, wie eine Organisation in der Zukunft sein soll.

Gestützt wird das Versprechen von Sicherheit noch dadurch, dass ich in einer solchen Welt mit “Best Practices” und “Bench Marks” arbeiten könnte: Wenn man ohnehin jedes Projekt datafiziert, wird auch alles mit allem vergleichbar. Dann gibt es keine organisationsspezifischen, einzigartigen Probleme mehr: Ich kann den gleichen Stiefel durchziehen, nur ein paar Kennzahlen verändern sich. Und Austauschbarkeit ist kein Problem mehr, denn sie ist Teil des Sicherheitsversprechen: Sicherheit ist dann erreicht, wenn man im Vergleich zu allen anderen gute Zahlen erreicht hat.

Ich müsste nicht mehr zuhören

Aber das Beste an der Abkehr von diskursiver Beratung wäre: Ich müsste nicht mehr zuhören. All die guten Gründe, aus denen Leute handeln wie sie handeln. All die Folgeprobleme, die Stakeholder bei einer geplanten Veränderung schon antizipieren und die sich dann regelmäßig einstellen. Das schwierige Ringen um die gemeinsame Begründung für geplanten Veränderungen  – all das wäre unnötig.

Ich könnte tatsächlich mal den „Roll-Out“ einer Strategie so begleiten, wie es sich Organisationsgestalter:innen vorstellen, die sagen „die Leute haben es noch nicht richtig verstanden.“ Dann kann man Workshops planen, die Ängste nehmen und Leute dort abholen, wo sie stehen. Man könnte ein Festival der organisationalen Design-Ästhetik feiern und die Organisation dazu einladen zu bewundern, was sich die Top-Hierarchie für sie ausgedacht hat. Einmal de Berater sein, der Begeisterung entfacht, der die guten Antworten verteilen kann – anstatt immer der zu sein, der Fragen hat, und noch mehr Fragen – und noch mehr Fragen.

Es könnte so einfach sein – ist es aber nicht

Aber: Dieser Berater bin ich nicht. Es könnte so einfach sein. Ist es aber nicht. Denn dann würde ich meine beraterische Aufrichtigkeit für diese schlichte Form der Einfachheit opfern. Ich bin überzeugt, dass in den Zumutungen der diskursiven Beratung das steckt, was Organisationen besser macht. Diskursive Beratung ist eine Zumutung für mich – und zugleich das, was ich den Organisationen, die ich berate, zumuten muss.

Konstruktivistisch beraten heißt, Organisationen (meist in Person der Auftraggebenden) einige Einsichten zumuten:

  1. Es gibt nicht die eine rationale und richtige Lösung gibt, sondern immer mehrere und widersprüchliche.
  2. Die Suche nach guten Lösungen kann Zeit brauchen, weil auch die Gründe hinter den Problemen erst gesucht werden müssen.
  3. Das Bestimmen der “richtigen” Verknüpfung von Ursache und Wirkungen ist  weniger wichtig als das Entwickeln einer Erzählung, hinter der sich die Organisation sammeln kann.
  4. Niemand nimmt ihnen die Verantwortung dafür ab, über sich selbst zu entscheidennicht die Best Practice, nicht die Bench Marks, nicht die klugen Consultants.

Damit sind wir am Ende dieser Reihe. In fünf Artikeln ging es um den Unterschied zwischen konstruktivistischer und zweckrationaler Beratung. Am Anfang stand auch die Suche nach einem Elevator Pitch; ich bin bis zum Schluss auf keinen gekommen. Aber zum Glück hat mein Kollege Finn-Rasmus Bull jüngst einen verfasst – und ich stimme ihm vollumfänglich zu:

Wir interessieren uns dafür, wie Organisationen sind. Nicht, wie sie sein sollten. Wir legen Verständigungsprozesse so an, dass sie der wilden Realität des Organisationsleben Rechnung tragen.

Autor
Kai Matthiesen

Dr. Kai Matthiesen

hat ein besonderes Augen­merk auf die alltäglichen Aufgaben von Organisations­mitgliedern – und was von ihnen formal eigentlich gefordert ist.

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Kommentar (1)

  1. Martin Teuber sagt:

    Sehr spannende Reihe, lieber Kai Matthiesen, herzlichen Dank. Und gerne lese ich regelmäßig weiter, daher melde ich mich hier an.
    Viele Grüße aus Köln, Martin Teuber

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