Integrität ist eine der aktuellen Lieblingsvokabeln im Management. Mitarbeiter sollen sich demnach nicht mehr nur an staatlichen Gesetzen und internen Regeln orientieren, sondern sich auch unter moralischen Gesichtspunkten korrekt verhalten. Die Spitzen der Organisationen verpflichten sich zu einer „integren Unternehmenspolitik“, bekennen sich zu einer „werteorientierten Führung“ und fordern von ihren Mitarbeitern eine „moralische Haltung“ ein.
Unternehmen richten inzwischen die Position des Chief Integrity Officers ein. Verwaltungen starten umfassende Programme zur Erhöhung der Integrität unter den Mitarbeitern. Krankenhäuser verteilen Fragenkataloge, mit deren Hilfe Mitarbeiter vor jeder Entscheidung abschätzen können sollen, ob diese den Ansprüchen an Integrität entspricht oder nicht. Wie ist es zu dieser Popularität gekommen? Und was sind die Folgen, wenn Redlichkeit so offensiv als Maßstab für organisatorisches Handeln eingefordert wird?
Der Grund für die Beliebtheit der Integrität wird im „Versagen“ der klassischen Systeme zur Regeleinhaltung gesehen.[1] Unter dem Begriff der „Compliance“ haben alle größeren Organisationen ganze Regeldoktrinen eingeführt, mit denen die Befolgung von staatlichen Gesetzen, branchenweiten Standards und organisationsinternen Vorgaben sichergestellt werden sollte. Es wurden Abteilungen eingerichtet, die nicht selten aus Hunderten von Mitarbeitern bestanden, deren einzige Aufgabe es war, die Befolgung der Regeln sicherzustellen. Fast schon erwartungsgemäß bildeten sich darüber hinaus sogar eigene Karrierewege für sogenannte „Compliance-Manager“ aus.
Die Logik dieser klassischen Systeme zur Überprüfung der Regeleinhaltung ist denkbar einfach. Organisationen geben sich Programme, an die sich die Mitglieder zu halten haben, wenn sie nach wie vor ein Mitglied der Organisation bleiben wollen. Eine Entscheidung, die durch das Programm gedeckt ist, ist richtig. Eine Entscheidung, die dem Programm widerspricht, ist falsch.[2] Ein Beispiel: Bei Ausschreibungen über 20.000 Euro sind mehrere Angebote einzuholen – wenn man dies macht und dabei die Ausführungsbestimmungen beachtet, ist man als Mitglied auf der sicheren Seite. Bei Bekanntwerden eines davon abweichenden Vorgangs ist der Verstoß unter Rechtfertigungszwang. Die Aufgabe des Compliance Managements besteht in diesem Szenario lediglich darin, die Einhaltung dieser Vorgaben so gut es geht zu überwachen.
Die Wahrnehmung, dass solche Systeme zur Regeleinhaltung nicht ausreichen, um Korruption, Geldwäsche, Kartellbildungen und Umweltverstöße zu bekämpfen, hat zur inzwischen so populären Forderung geführt, dass Organisationen sich an „moralischen Werten“ orientieren sollten. Man solle sich, so das Argument, nicht nur an Regeln halten, sondern sich gezielt an Werten orientieren. Ziel könne nicht mehr nur die stupide Befolgung formaler Prinzipien sein, wie die Vermeidung von Verstößen gegen staatliche Gesetze, branchenspezifische Standards oder interne Bestimmungen. Es komme vielmehr auf die Entwicklung einer „spezifisch werteorientierten Haltung“ an, die weit über die durch die Organisation gesetzten Bestimmungen hinausgehe.[3]
Das Bekenntnis zu Integrität hat auf den ersten Blick eine gewisse Plausibilität. Es wäre überraschend, wenn die Geschäftsführerin eines Unternehmens offen für eine „korrupte Unternehmenspolitik“ einträte, eine „unmoralische Haltung“ ihrer Mitarbeiter einforderte und eine von „Werten befreite Führung“ propagierte. Der Vorteil von Werten ist, dass sie eine hohe „Konsenschance“ haben.[4] Im Wesentlichen kann man sich schnell darauf einigen, dass Menschenrechte, Umweltschutz und Gerechtigkeit, Frieden sowie Freiheit anzustreben sind.
Das Problem ist jedoch, dass Werte im Gegensatz zu Programmen nur sehr unbestimmte Anhaltspunkte für Entscheidungen geben. Sie lassen weitgehend unklar, welche Entscheidung einer anderen vorgezogen werden muss. Wie soll man darauf reagieren, wenn die Freiheit, sich mit einem Auto beliebig fortzubewegen, den vorzeitigen Tod von Tausenden Anwohnern von Schnellstraßen durch Stickoxide und Feinstaubbelastung zur Folge hat? Soll man im Konfliktfall für die Durchsetzung von Menschenrechten einen Krieg führen? Die Orientierung an Werten führt – anders als die Orientierung an Programmen – bei konkreten Entscheidungen zu einer Vielzahl von sehr praktischen Widersprüchen.
Die Forderung nach Integrität ist erst einmal die Aufforderung an die Mitarbeiter, sich redlich zu verhalten. Mitarbeiter müssten „Charakterstärke“ zeigen, in schwierigen Situationen für „das Richtige und Gerechte“ einstehen, und zwar auch dann, wenn dieses Verhalten mit hohen Kosten für sie selbst verbunden ist. Es gilt, dass man sich aus „Einsicht an die Richtigkeit“ an moralische Richtlinien hält und nicht, weil deren Verletzung mit Sanktionen verbunden ist.
Der moralische Anforderungskatalog an die Mitarbeiter wird zu einer fast unendlich langen Liste.[5] Mitarbeiter sollten beispielsweise nicht nur „in Einklang mit den eigenen Werten“ handeln und sich dabei permanent um einen „fairen Ausgleich“ bemühen zwischen dem, was ihnen persönlich nütze, sowie dem, was anderen diene. Es komme weiterhin auf „Authentizität“ an, auf die Übereinstimmung zwischen den „Werten, die man vertritt, und den Handlungen, die man vollführt“. Wichtig sei bei integrem Verhalten die „moralische Standhaftigkeit im Angesicht von Widerständen“, also in Konfliktsituationen auf das Ergebnis abzuzielen, das „die bestmögliche Realisierung der vertretenen Werte ermöglicht“.[6]
Weil sich weder Einstellungen noch Haltungen befehlen lassen, hat die Attraktivität des Themas Integrität zu einem Boom von Kulturprogrammen in Organisationen geführt. Mitarbeiter von Großorganisationen werden von „Chief Innovation Evangelists“ auf „Culture Journeys“ geführt, auf denen sie von Kleinstorganisationen Kommunikation jenseits der Hierarchie lernen sollen. Es werden Kulturen der Zusammenarbeit erlassen, durch die Mitarbeiter dazu verpflichten werden, sich „aufrichtig zueinander“ zu verhalten, „unkompliziert und verlässlich miteinander umzugehen“, sich „auf Augenhöhe“ zu begegnen und sich „freundschaftlich verbunden“ zu fühlen. Welche Effekte hat eine solche moralische Aufladung von Organisationen?
Wenn Organisationen gegenüber ihren Mitarbeitern den Wert der Integrität betonen, führt dies nicht dazu, dass sich diese auch redlich verhalten. Integrität funktioniert nicht wie eine Trivialmaschine, bei der man auf der einen Seite die Forderung nach makellosen Einstellungen hineinsteckt und dann auf der anderen Seite ein den Ansprüchen entsprechendes Handeln herauskommt. Der Effekt von Integritätskampagnen ist lediglich der, dass die Mitarbeiter ihr Auftreten anders darstellen werden, denn angesichts der von der Organisationsspitze betriebenen Aufladung mit Werten müssen sie ihr Handeln nicht mehr nur als regelkonform, effizient und innovativ, sondern zusätzlich auch als integer präsentieren.
Solche Kampagnen produzieren in letzter Konsequenz genau das, was sie eigentlich verhindern wollen: Heuchelei. Sicherlich, keine Organisation kann es sich leisten, auf ein gewisses Maß an Scheinheiligkeit zu verzichten.[7] Jedes Unternehmen, jede Verwaltung, jedes Krankenhaus, jede Partei und jede Nichtregierungsorganisation ist darauf angewiesen, ihrer Umwelt neben ihren eigentlichen Leistungen immer auch eine zurechtgestutzte Darstellung ihrer selbst zu präsentieren.[8] Scheinheiligkeit und Heuchelei sind lediglich die in der Organisationswissenschaft etablierten, für Praktiker aber vielleicht zuerst unfreundlich klingenden Begriffe für ein solches Aufhübschen der Schauseite von Organisationen.
Aber es gibt gute Gründe, dieses für die Herstellung von Legitimation notwendige Aufhübschen der Organisation Spezialisten zu überlassen. Es ist der implizite, aber zentrale Bestandteil der Jobbeschreibungen von Marketingexperten und PR-Abteilungen und es gehört nicht selten auch zum Geschäftsführerwissen, eine hübsche Fassade der Organisation aufzubauen, zu pflegen und notfalls zu reparieren. Zur Professionalität gehört aber gleichermaßen, die optisch hergerichtete Vorderbühne nicht mit der Realität der Organisation zu verwechseln.
Verlangt eine Organisationsspitze jedoch von allen Mitarbeitern das Bekenntnis zu Integrität, dann blockiert dies die notwendigen Auseinandersetzungen innerhalb einer Organisation. Integrität wird zu einer abstrakten Formel, zu der man sich – will man Karriere in der Organisation machen – zwangsläufig bekennen muss. Auf fast schon gottesdienstähnlichen Sitzungen übt man die von oben verordneten Werteformulierungen ein. Mikropolitische Konflikte werden moralisch aufgeladen und die in jeder Organisation unvermeidbaren Kontroversen mit Aspekten persönlicher Achtung verbunden. All das verändert eine Organisation, aber eines wird diese dadurch sicherlich nicht: eine unter moralischen Gesichtspunkten bessere Version ihrer selbst.[9]
[1] Siehe nur beispielsweise Stephan Grüninger, Lisa Schöttl, Josef Wieland: Unternehmensintegrität & Compliance – Was wirklich wichtig ist. Berlin 2015, S. 2.
[2] Niklas Luhmann: Rechtssoziologie. Reinbek 1972, S. 88.
[3] Siehe früh schon Lynn Sharp Paine: Managing for Organizational Integrity. In: Harvard Business Review 72 (1994), 2, S. 106–117.
[4] So N. Luhmann: Rechtssoziologie (wie Anm. 186), 88f. Siehe auch ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997, S. 343.
[5] Siehe nur beispielhaft Thomas Kuhn, Jürgen Weibler: Führungsethik in Organisationen. Stuttgart 2012.
[6] S. Grüninger, L. Schöttl, J. Wieland: Unternehmensintegrität & Compliance – Was wirklich wichtig ist (wie Anm. 185), S. 8.
[7] N. Brunsson: The Organization of Hypocrisy (wie Anm. 107), 194ff.
[8] S. Kühl: Organisationen (wie Anm. 181), 136ff.
[9] Siehe ausführlich dazu S. Kühl: Brauchbare Illegalität (wie Anm. 88), S. 147.