Wenn man nicht am Fließband steht, Pizzas ausliefert oder Beton gießt, muss man sich zwangsläufig mit der Kommunikation über Webkonferenzen vertraut machen. Die Einschätzungen davon rangieren von „Warum überhaupt noch Livemeetings, geht doch alles genauso gut online“, bis zu „Furchtbar ermüdende, zu Ablenkungen einladende, durch und durch suboptimale Arbeitsweise“. Welche Einschätzung stimmt jetzt?
Der Fokus der Interaktionsforschung richtet sich darauf, wie sich Interaktion unter Anwesenden, also der Interaktion an einem Ort, von der Interaktion unter Abwesenden, also der internetbasierten Interaktion, unterscheidet. Beide Formen von Interaktion basieren auf der erfolgreichen wechselseitigen akustischen und visuellen Wahrnehmung der Kommunikationspartner:innen. Die Bandbreite von sprachlichen Verständigungen, von paraverbalen, also nicht sprachlich gefassten Lauten wie Stöhnen, Kichern oder Lachen, sowie von nonverbalen Zeichen wie Mimik, Gestik oder Körperhaltung unterscheidet sich jedoch erheblich.[1]
Auf den ersten Blick fällt auf, wie weitgehend sich die für die Interaktion unter Anwesenden üblichen Mechanismen inzwischen über Kommunikationsplattformen im Internet simulieren lassen. Während vor einigen Jahrzehnen die Kommunikation unter Abwesenden bestenfalls auf sprachlichem Austausch zwischen zwei Teilnehmer:innen via Telefon oder Funk beruhte, die eine beschränkte Übertragung von verbalen sowie paraverbalen Zeichen ermöglichten, lassen sich heutzutage in webbasierten Interaktionen Dutzende von Personen audiovisuell zusammenschalten. Man kann über die Plattformen nicht nur die Stimmen der Interaktionsteilnehmer:innen hören, sondern auch ihre Gesichter und häufig sogar einen Teil ihrer Körper sehen. Man kann Aufmerksamkeit fokussieren, in dem man alle auf einen Bildschirm mit einer Präsentation, einem Bild oder einem Film schauen lässt, die Diskussion für alle visualisiert oder alle gleichzeitig an einem Dokument arbeiten lässt. Man kann Kleingruppeninteraktionen initiieren, zwischen diesen hin- und herwandern und über die Chatfunktion oder über parallel laufende Kommunikationsplattformen Nebengespräche führen.
Aber trotz dieser Möglichkeiten filtert die internetbasierte Interaktion immer noch eine Vielzahl der für die Kommunikation unter Anwesenden typischen Zeichen heraus. Deswegen spürt man in internetbasierten Interaktionen nicht die Spannung einer interessanten Diskussion. Der Ausdruck persönlicher Achtung für einen klugen Gedanken über ein virtuelles Sternchen oder Herzchen in der internetbasierten Wechselbeziehung ist im Vergleich zum anerkennenden Nicken in der Interaktion unter Anwesenden grob. Die scherzhaft vorgetragene Anekdote eignet sich im internetbasierten Zusammensein nicht besonders gut zur Entspannung aller Beteiligten. Ein auflockernder Witz führt selten zu einer gefühlsmäßigen Ansteckung der Interaktionsteilnehmer:innen. In der internetbasierten Interaktion lacht jeder mehr oder minder für sich allein.
Man kann diesen Mangel an Ausdrucksmöglichkeiten mit guten Gründen beklagen. Gerade in geselligen Interaktionen, die für Kommunikationen außerhalb von Organisationen typisch sind, werden die negativen Effekte dieser Begrenzungen deutlich. Zu zweit mag man sich über das Telefon, über Facetime oder über Skype „festquatschen“, von größer ausufernden internetbasierten Feiern über Internetplattformen ist nichts bekannt. Für die ungesellige Interaktion, die für die Kommunikation in Organisationen typisch ist, kann jedoch der Mangel an Ausdrucksformen durchaus positive Effekte haben.[2] Gerade in Interaktionen in Organisationen können überflüssige Zeichen die Verständigung erschweren. Die Gefahr ist, dass in der Interaktion unter Anwesenden zu vieles aneinander wahrgenommen wird, das für das Diskussionsthema nicht relevant ist, sodass keine oder zumindest zu wenig Aufmerksamkeit auf das Wesentliche gelegt werden kann.[3]
Das Fehlen paraverbaler und nonverbaler Zeichen ermöglicht in der Interaktion unter Abwesenden eine Fokussierung auf die Sachdimension. Die Rede ist von einer „Büroatmosphäre“, die sich fast zwangsläufig in internetbasierten Interaktionen in Organisationen ausbildet.[4] Diese Fokussierung auf die Sachdimension kann durch eine für alle sichtbare Visualisierung der Diskussion noch unterstützt werden.
Die Konzentration auf Sachthemen wird allerdings erkauft durch erhebliche Verluste von Informationen in der Sozialdimension. Die Selbstdarstellungsmöglichkeiten als Person sind in der Kommunikation unter Abwesenden stark eingeschränkt. Während das gerade für die gesellige Interaktion außerhalb von Organisationen problematisch ist, kann das für die Interaktion in Organisationen wiederum als Vorteil genutzt werden. So wird in Mitarbeitergesprächen die Diskussion von Themen häufig durch die Beschäftigung von Untergebenen – und nicht selten auch Vorgesetzten – mit ihrer Selbstdarstellung überlagert, sodass einiges dafürsprechen könnte, nicht nur in Zeiten organisational angeordneter physischer Distanzierung solche Formate internetbasiert durchzuführen. Der Verlust von Selbstdarstellungsmöglichkeiten führt in der Zeitdimension darüber hinaus noch dazu, dass die Aufmerksamkeitsspannen kürzer werden. Es scheint in der Interaktion unter Abwesenden an entspannender Ablenkung in Form einer kurzen Verständigung mit der Nachbarin, des kurzen Seitenblicks auf einen attraktiven Gesprächspartner oder eines abschweifenden Blicks durch den Raum zu fehlen. Deswegen lassen sich Interaktionen unter Abwesenden häufig nicht genauso lange durchhalten wie Interaktionen unter Anwesenden, was die Empfehlungen zu kürzeren Zeitblöcken und rigideren Zeitregimen in der internetbasierten Interaktion erklären kann.
Die im Alltag üblichen Klagen über instabile Netzverbindungen, limitierte Ausdrucksmöglichkeiten und Probleme in der Beherrschung der Internetdienste verweisen auf die technischen Begrenzungen der Interaktion unter Abwesenden. Soziologisch deutlich interessanter ist allerdings, dass die technischen Möglichkeiten teilweise bewusst nicht ausgeschöpft werden, um die Meetings entsprechend eigenen Vorstellungen zielgerichtet gestalten zu können. In Zweiergesprächen wird die Videofunktion beispielsweise oftmals ausgeschaltet, um zu verhindern, dass die Teilnehmer:innen zu stark mit ihrer visuellen Selbstdarstellung in der Interaktion beschäftigt sind, in Seminaren die Chatfunktion deaktiviert, um die Diskussionen für alle sichtbar auf dem Bildschirm visualisieren zu können. Die technische Filterwirkung in der Interaktion unter Abwesenden ist also nicht nur eine beklagenswerte Limitierung der Ausdrucksmöglichkeiten, sondern bietet ganz im Gegenteil vielfältige Chancen zur Gestaltung der Interaktion in Organisationen.[5]
[1] Zu den Identitäts-, Politisierungs- und Komplexitätsproblemen siehe ausführlich Stefan Kühl: Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücken der flachen Hierarchien. Frankfurt a.M., New York 2015.
[2] Siehe dazu sehr früh schon mit einer Anwendung auf Videokonferenzen Heinrich Walter Schmitz: Videokonferenz als eigenständige Kommunikationsform. Eine explorative Analyse. Klagenfurt 1999.
[3] Zur Unterscheidung geselliger und ungeselliger Interaktion siehe Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin 1964, 295ff. Grundlegend natürlich Georg Simmel: Soziologie der Geselligkeit. In: Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hrsg.): Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages. Tübingen 1911, S. 1–16.
[4] Kai Matthiesen, Jonas Spengler: Verständigung mit Nicht-Anwesenden. Was leisten digitale Formate. In: Organisationsentwicklung (2020), 2, S. 31–35.
[5] So die Beobachtung von Marcel Schütz, der an verschiedenen Hochschulen mit Onlinelehre experimentiert. Siehe dazu Marcel Schütz, Carsten von Wissel: Interaktionsformen in Organisationen – ein Impuls. In: Organisationsentwicklung (2020), 2, S. 101–102.