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Der ganz formale Wahnsinn

Automation: Die trügerische Entlastung durch Technik

  • Stefan Kühl
  • Dienstag, 11. April 2023
Automation

Anfang der 1960er-Jahre fragte der Systemtheoretiker Niklas Luhmann, wonach künftige Generationen einmal „unser Zeitalter“ beurteilen würden – „vielleicht die Bombe, vielleicht die Pille, vielleicht auch die Automation“. Der Begriff „Automation“ mag hier überraschen, weil etliche Jahrzehnte später dieser sicherlich nicht mehr zum allgemeinen Wortschatz der meisten Menschen gehört.[1] Automation bedeutet letztlich nichts anderes, als Prozesse so weit zu technisieren, dass sie statt von Menschen von Maschinen ausgeführt werden können.

Aus der frühen Diskussion über den Begriff „Automation“ kann man lernen, wie alt die Debatte über die Möglichkeiten neuer computerbasierter Technologien ist. Die Themen, die in den 1960er-Jahren unter dem Begriff der „Automation“ heftig debattiert wurden, wurden in den 1970er-Jahren unter dem Begriff der „Datenverarbeitungssysteme“ weiter diskutiert, in den 1980er-Jahren unter der Bezeichnung der „Informations- und Kommunikationstechnologien“ wieder hervorgeholt und dann ab den 2000er-Jahren unter dem Begriff der Digitalisierung gepusht.

Sicherlich, die technischen Möglichkeiten haben sich erheblich erweitert. Technikmuseen beeindrucken ihre jungen Besucher inzwischen dadurch, dass sie die riesigen, mit Lochkarten zu fütternden Rechenmaschinen der 1950er- und 1960er-Jahre zeigen, die weit weniger Rechenleistungen hatten als jeder elektronische Wecker heutzutage. Das Moore’sche Gesetz – die Prognose, dass sich die Leistungsfähigkeit von Computerchips jedes Jahr verdoppelt – hat dazu geführt, dass in industrialisierten Ländern jeder Mensch über eine Vielzahl von elektronischen Geräten verfügt, für deren Kapazitäten früher ganze Etagen von Bürogebäuden notwendig gewesen wären.

Techniken – also die reflexartige Reaktion auf einen vorher definierten Impuls – lassen sich dabei sowohl im menschlichen Verhalten als auch eingebettet in Maschinen finden. Automation beschreibt hierbei den Versuch, die Langsamkeiten, Ineffizienzen und Unsicherheiten, die dem menschlichen Verhalten inhärent sind, dadurch zu vermeiden, dass die Technik in Maschinen integriert wird. Das genau programmierte Einschrauben eines Seitenspiegels durch eine Montagearbeiterin in der Automobilproduktion wird dann übernommen von einem Montageroboter. Automation ist, um es kurz zu fassen, die Verlagerung der Ausführung von enggekoppelten Wenn-dann-Programmen vom Menschen auf die Maschinen.[2]

Auf den ersten Blick produziert die Automation den gleichen grundlegenden Effekt wie Techniken im menschlichen Verhalten auch – Entlastung. [3] Die Erfindung der Schreibmaschine machte es überflüssig, sich darüber zu verständigen, wie groß oder klein und in welcher Weise Buchstaben geschrieben werden mussten, und löste nachvollziehbare Proteste bei Buchhaltern aus, die mit der „Abwertung der gestochenen Handschrift“ das „Ethos des ganzen Berufes“ infrage gestellt sahen.[4] Die Einführung von Grafikcomputern führte dazu, dass Studierende der Ingenieurswissenschaften nicht mehr mühevoll die genau genormten Schriften lernen mussten, um die am Reißbrett entworfenen Maschinen zu beschriften, weil die ehemals durch die Normen genau definierten Rundungen und Abstände der Buchstaben nunmehr in die Computerprogramme eingeschrieben waren.[5] Die Etablierung betriebswirtschaftlicher Software ermöglichte es, vorher schriftlich niedergelegte formale Regeln und bürokratische Prozeduren technisch abzubilden, und reduzierte so Kontrollnotwendigkeiten in Organisationen.[6]

Auf den zweiten Blick produziert die Automation neue Abstimmungs­notwendigkeiten. Wer sich die Einrichtung eines hoch automatisierten Fertigungsprozesses genau ansieht, stellt fest, dass ein Großteil dieser Prozesse nur funktioniert, weil Mitarbeiter sehr viel Fantasie aufwenden, um mit den Tücken der neuen Praxis umzugehen. Wer jemals die Einführung einer betriebswirtschaftlichen Standardsoftware in einem Unternehmen, einer Verwaltung oder einer Universität begleitet hat, sieht nicht unbedingt zuerst die Rationalisierungseffekte, sondern staunt stattdessen, mit wie viel – häufig auch regelbrechender – Kreativität die Mitarbeiter:innen die Software „austricksen“, um eine gewisse Flexibilität von Organisationen zu erhalten.[7]

Diese Vereinfachung von Abläufen durch die Digitalisierung schafft, so paradox dies auch klingen mag, eine neue Komplexität auf höherer Ebene. Die Organisation kann sich einerseits durch die Automation Entlastung verschaffen, muss sich jedoch andererseits mit den damit einhergehenden, neu geschaffenen Abstimmungsproblemen auseinandersetzen. Durch die Automation werden zwar elementare Abläufe in der Organisation vereinfacht, gleichzeitig aber von Menschen vorzunehmende Anpassungsnotwendigkeiten auf einem höheren Niveau produziert. Schon vor Jahrzehnten hat die Psychologin Lisanne Bainbridge diesen Effekt als „Ironie der Automation“ bezeichnet.[8] Bei der Automation ist es wie beim bekannten Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel: Kaum hat man in Technik investiert, um eine Entlastung zu produzieren, schon ist die gesteigerte Komplexität da und kreiert neue Entlastungsbedürfnisse.[9]

[1] Niklas Luhmann: Automation in der öffentlichen Verwaltung. In: ders. (Hrsg.): Schriften zur Organisation 4. Reform und Beratung. Wiesbaden 2020, S. 1–27, hier S. 3.
[2] So bereits sehr früh – und somit lange vor dem aktuellen Hype – zu „algorithmic organization“, Wolf Heydebrand: New Organizational Forms. In: Work and Occupation 16 (1989), S. 323–357, hier S. 341.
[3] Niklas Luhmann: Macht. Stuttgart 1975, S. 71. Siehe auch ders.: Organisation und Entscheidung. Opladen 2000, S. 372.
[4] So die Schilderung von Niklas Luhmann ohne weitere Referenz in N. Luhmann: Automation in der öffentlichen Verwaltung (wie Anm. 45), S. 25.
[5] Matthew G. Kirschenbaum: Track Changes. A Literary History of Word Processing. Cambridge 2016.
[6] So schon W. Heydebrand: New Organizational Forms (wie Anm. 46), S. 341.
[7] Siehe dazu Hannah Mormann: Das Projekt SAP. Zur Organisationssoziologie betriebswirtschaftlicher Standardsoftware. Bielefeld 2016.
[8] Lisanne Bainbridge: Ironies of Automation. In: Automatica 19 (1983), S. 775–779. Siehe auch Barry Strauch: Ironies of Automation: Still Unresolved After All These Years. In: IEEE Transactions on Human-Machine Systems 48 (2018), S. 419–433.
[9] Ulrike Berger: Rationalität, Macht und Mythen. In: Willi Küpper, Günther Ortmann (Hrsg.): Mikropolitik. Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen. Opladen 1988, S. 115–130, hier S. 118.

Autor
Stefan Kühl

Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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