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Der ganz formale Wahnsinn

Technik: Die Risiken einer engen Kopplung

  • Stefan Kühl
  • Montag, 3. April 2023
technik

Mit „Technik“ werden auf den ersten Blick ganz unterschiedliche Phänomene bezeichnet. Man kann an die Technik beim Basketballspielen denken, die man erlernen muss, um nachher auf dem Spielfeld zu bestehen, an die Technik beim Klavierspielen, die Voraussetzung für das Meistern komplexer Stücke ist, an die Technik der Organisationsführung, die eine Führungskraft mühsam erlernen muss, an die Fertigungstechnik in Produktionsunternehmen oder an die Informationstechnik, ohne die elektronische Datenverarbeitungsgeräte nicht funktionieren könnten. Bei aller Unterschiedlichkeit geht es immer um das Gleiche, eine genau vorgegebene Reaktion auf einen vorher genau definierten Impuls. Egal, ob man beim Basketballspiel zu einem Wurf ansetzt, beim Klavierspielen eine Note sieht, eine bestimmte Situation in einer Organisation erlebt, ein Werkstück in einer Fertigungsmaschine bearbeitet wird oder ein Sensor in einem elektronischen Gerät ausgelöst wird: Immer geht es darum, dass in einer vorher bestimmten Art und Weise reagiert wird. Technik ist letztlich also nichts anderes als ein Konditionalprogramm, bei dem sichergestellt werden soll, dass ohne weitere Prüfung eine genau definierte Reaktion auf einen Impuls erfolgt.[1]

Nun gehört es offensichtlich zum Charakter eines jeden Konditionalprogramms, dass erwartet wird, dass man auf einen Impuls in einer vorgeschriebenen Weise reagiert, aber – und der Punkt ist wichtig – es ist immer noch eine Entscheidung des Organisationsmitglieds, ob bei einem Impuls ein Programm angewendet wird oder nicht. Ein Organisationsmitglied kann sich immer auch gegen eine Anwendung einer Regel entscheiden, unterliegt dann aber einem Rechtfertigungszwang, weswegen es ein eigentlich vorgegebenes Programm nicht umgesetzt hat.  

Technik setzt an dieser Stelle an und soll genau diese Möglichkeit der Abweichung, die bei Wenn-Dann-Programmen existiert, ausschließen, indem eine feste Kopplung zwischen Impuls und Reaktion festgelegt wird.[2] Die Anwendung eines Programms erfolgt dann nicht mehr aufgrund einer Entscheidung, sondern wird automatisiert. Es wird nur noch stupide überprüft, ob eine Auslösebedingung vorliegt und dann „automatisch“ eine bestimmte Reaktion ausgeführt. Während eine konditionalprogrammierte Finanzbeamtin immer noch selbst entscheidet, ob sie bei einem verspäteten Eingang einer Steuererklärung eine formal vorgeschriebene Strafzahlung erhebt oder nicht, wird bei einer Verlagerung dieses Entscheidungsprozesses auf eine Maschine die Strafzahlung automatisch verschickt.

Obwohl wir bei Technik meistens an Maschinen denken, umfasst dieser Begriff auch menschliches Verhalten, sofern es „automatisch“ abläuft und nicht „durch Entscheidungen unterbrochen wird“.[3] Ob wir mit dem Fahrrad bei einer roten Ampel eine Straße überqueren, ist eine Entscheidung, mit der man gegen ein Wenn-Dann-Programm verstößt, das durch die Technik des Fahrradfahrens ermöglichte, sekündliche Austarieren des Fahrrades nicht. Aber das menschliche Verhalten ist bei der Umsetzung von Automatismen auffällig unperfekt. Man kann noch so sehr die Automatismen beim Fahrradfahren verinnerlicht haben, es passiert immer wieder, dass man auch ohne eine vorausgehende Entscheidung auf einen Impuls nicht in der vorprogrammierten Form reagiert. Zweifellos ist also die Einbettung in Maschinen – Stichwort Automation – die konsequenteste Umsetzung des Prinzips der Technik.

Maschinen können noch so leistungsfähig, Software noch so komplex, Roboter noch so sehr mit künstlicher Intelligenz aufgemotzt sein, letztlich handelt es sich dabei um nichts anderes als eine Aneinanderreihung einer extrem großen Anzahl von An- und Aussignalen, die über feste Kopplungen miteinander verbunden sind.[4] Selbstverständlich können auch hier Abweichungen auftreten, die werden aber unmittelbar als Systemfehler ausgewiesen und zumindest in den meisten Fällen entsprechend schnell behoben.

Aber genau in diesen in Technik hinterlegten Automatismen liegen auch enorme Risiken. Wir wissen inzwischen, dass Katastrophen dadurch zustande kommen, dass in Atomkraftwerken, Flugzeugen oder Energienetzen eine Vielzahl von technisierten Wenn-Dann-Programmen so stark ineinander verschachtelt werden, dass deren Wirkweise für einzelne Personen gar nicht mehr überschaubar ist. Man verlässt sich auf die Technik und wird dann überrascht, wenn es zu einer Kernschmelze, einem unkontrollierbaren Absturz oder einem Versorgungszusammenbruch kommt.[5] Vielleicht ist es an der einen oder anderen Stelle deswegen gar nicht so schlecht, wenn zwischen einem Auslöseimpuls und einer Reaktion immer noch eine Entscheidung steht.

[1] Niklas Luhmann spricht hier von der Möglichkeit der „Technisierbarkeit der Konditionalprogramme“. N. Luhmann: Rechtssoziologie (wie Anm. 186), S. 230.
[2] „Der Begriff der Technik soll sehr formal definiert sein als feste Kopplung von kausalen Elementen, gleichviel auf welcher materiellen Basis diese Kopplung beruht“ – so N. Luhmann: Organisation und Entscheidung (wie Anm. 47), S. 363.
[3] Ebd., S. 370.
[4] So die Formulierung bei Ursula Plesner, Emil Husted: Digital Organizing. Revisiting Themes in Organization Studies. London 2020, S. 5.
[5] Hierzu immer noch einschlägig Charles Perrow: Normal Accidents. New York 1984.

Autor
Stefan Kühl


Prof. Stefan Kühl

vernetzt in seinen Beobachtungen neueste Ergebnisse aus der Forschung mit den aktuellen Herausforderungen der Unternehmenswelt.

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