Dieser Artikel ist Teil einer Reihe, die das Management-Sachbuch Humanocracy diskutiert. Den Kern von Humanocracy bilden sieben Prinzipien, die Orientierung geben sollen, wenn man Organisationen gestalten oder in ihnen handeln muss. Dieser Artikel befasst sich mit dem sechsten Prinzip: Dem Prinzip des Experimentierens.
Auch in der Reihe erschienen:
- Wieso Humanocracy ein Buch ist, mit dem man sich auseinandersetzen sollte
- Das Prinzip der Ownership
- Das Prinzip des Marktes
- Das Prinzip der Meritokratie
- Das Prinzip der Gemeinschaft
- Das Prinzip der Offenheit
- Das Prinzip der Paradoxie
- Fazit: Ist Bürokratie der richtige Gegner?
Der Kerngedanke
Dem Prinzip des Experimentierens liegt ein evolutionärer Gedanke zu Grunde: Die Fülle an Ideen, die in Organisationen aufkommen, lässt sich als Variationen begreifen – ähnlich wie Mutationen im genetischen Code. Durchsetzen werden sich – ganz im Sinne einer evolutionären Logik – jene Ideen, die sich als besonders robust erweisen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt (also z.B. mit Blick auf Kundenanforderungen). Experimentieren ist in diesem Zusammenhang dann der Versuch, die Menge an Ideen zu erhöhen, um die Wahrscheinlichkeit bester Anpassung zu erhöhen – etwa um exakt die Bedürfnisse der Kunden zu treffen.
Die Herausforderung besteht laut Hamel und Zanini darin, an Ideen festzuhalten und sie zu verfeinern, statt sie bei ersten Rückschlägen sofort zu verwerfen. Genau in dieser geduldigen Weiterentwicklung von Ideen sehen die Autoren die große Stärke der Humanocracy gegenüber der Bürokratie. Bürokratien hegten eine Aversion gegenüber Experimenten und seien darauf ausgerichtet, zuverlässig Produkte herzustellen. Abweichungen von Standards würden von Bürokratien typischerweise als Störung wahrgenommen, die es zu unterbinden gelte (200).
Zudem fehle es in Bürokratien an hinreichenden Ambitionen und Geduld, um Ideen auch gegen Widerstände und Rückschläge weiterzuentwickeln (203). In der Humanocracy solle dagegen jede:r Mitarbeiter:in wie ein Entrepreneur denken und handeln: „In Humanocracy, everyone needs to be a maker, to roll up their sleeves, get their hands dirty, and build something” (208).
Unsere Überlegungen
Mit dem Prinzip des Experimentierens verorten sich Hamel und Zanini im Spannungsfeld zwischen Exploration und Exploitation11 klar auf der Seite der Exploration. Wie bei jedem Spannungsfeld besteht aber die Herausforderung gerade darin, Vereinseitigungen zu vermeiden. Sicher, es besteht die reale Gefahr, in die Kompetenzfalle zu tappen: Weil man tut, was man tut, wird man besser in dem, was man tut – konzentriert sich in der Folge noch mehr auf das, was man immer getan hat und vernachlässigt andere Optionen.
Damit mag man zwar kurzfristig Erfolge maximieren, man riskiert aber, längerfristig nicht gut auf sich wandelnde Umstände reagieren zu können. Auch wenn man von seiner Wichtigkeit überzeugt ist, wird man doch die ganz eigenen Risiken ungehemmten Experimentierens sehen müssen. Wenn ständig neue Dinge ausprobiert werden, gibt es keine Chance, Routinen zu entwickeln. Hamel/Zanini sehen gerade darin die Überlegenheit von Humanocracy gegenüber der Bürokratie – übersehen dabei aber die Funktion, die Routinen für Organisationen haben.Ohne Routinen finden sich diese nämlich in einer Dauerunruhe wieder [1], die auf Kosten der Effizienz und möglicherweise auch auf Kosten der eigenen Identität geht. Wer ist man, wenn man potenziell alles sein könnte?
Hinzu kommt: Man muss sich Experimente auch ökonomisch leisten können. Und diese ökonomische Grundlage dürfte vor allem geschaffen werden, indem man das tut, was man–auch ohne allzu großen Extra-Aufwand – gut kann. Exploitation wird dann zur Voraussetzung dafür, das Abenteuer Exploration überhaupt wagen zu können.
Wie es gehen könnte
Im Kern handelt es sich bei der Frage des Experimentierens eher um ein graduelles Problem. Eine Organisation, die sich gar keine Experimente erlaubt oder diese strukturell faktisch demotiviert, sollte sicher nach Chancen zu suchen, mehr Raum für Experimente zu schaffen. Aber so, wie naturwissenschaftliche Experimente eine nicht-experimentelle Infrastruktur benötigen (die verwendeten Mikroskope etwa sind in hohem Maße standardisiert und geeicht), so brauchen auch organisationale Experimente eine stabile Struktur, die den Rahmen für Experimente schafft. Insofern geht es weniger darum, Experimente zu mystifizieren und ihnen einen nicht hinterfragbaren Eigenwert zuzuschreiben. Vielmehr sollte das Ziel sein, eine Umgebung zu schaffen, in der Experimente – und vielleicht auch waghalsige Experimente – möglich sind als sinnvolle Ergänzung bestehender Routinen.
Literatur
[1] Siehe zu dieser Spannung grundsätzlich March, James G. (1991): Exploration and Exploitation in Organizational Learning. Organization Science 2, 71–87.