Dieser Artikel ist der Schluss einer Reihe, die das Management-Sachbuch Humanocracy diskutiert.
In der Reihe erschienen:
- Wieso Humanocracy ein Buch ist, mit dem man sich auseinandersetzen sollte
- Das Prinzip der Ownership
- Das Prinzip des Marktes
- Das Prinzip der Meritokratie
- Das Prinzip der Gemeinschaft
- Das Prinzip der Offenheit
- Das Prinzip des Experimentierens
- Das Prinzip der Paradoxie
Wir haben uns über eine ganze Reihe von Artikeln detailliert mit den sieben Humanocracy-Prinzipien beschäftigt. Wir haben kritisch und differenziert auf die Zutaten der Humanocracy geschaut und dabei immer wieder auf implizite Probleme, Widersprüche und mögliche Übertreibungen hingewiesen. Vielen unserer Anmerkungen würden die Autoren vermutlich gar nicht widersprechen, schließlich sind Zuspitzungen unvermeidbar, wenn man eine neue Idee auf rund 300 Seiten entwickeln möchte.
Zum Abschluss wollen wir in diesem Beitrag noch einmal herauszoomen und Humanocracy als Ganzes betrachten: Was ist das für eine Organisation, die Hamel und Zanini vorschwebt? Ist es erstrebenswert, sich auf den Weg zu dieser Organisation zu machen? Und gibt das Buch Humanocracy hinreichend Orientierung, um diesen Weg erfolgreich zu Ende zu gehen?
Wird eine bürokratiearme Organisation wirklich humaner?
Alles in allem ergeben die Beschreibungen von Hamel und Zanini ein Organisationsmodell mit stark individualisierenden Tendenzen: viel Autonomie für kleine Organisationseinheiten mit eigener Ergebnisverantwortung, der Markt als zentraler Koordinationsmechanismus. Die Nähe zu einer neo-liberalen Ideologie ist unverkennbar und wird konsequent in die Organisation hinein fortgeschrieben. Man darf bezweifeln, ob die von den Autoren beschriebene Organisation eine humanere Organisation ist. Ja, man darf bezweifeln, ob es den Autoren darum im Kern überhaupt geht. Sie selbst legen sich nicht wirklich fest, auf welches Problem Humanocracy die Antwort liefert. Mal heißt es: „In a humanocracy, the organization is the instrument—it’s the vehicle human beings use to better their lives and the lives of those they serve” (20); an anderen Stellen steht eher die Maximierung organisationaler Innovationskraft im Vordergrund, weniger die Verbesserung der Bedingungen menschlicher Zusammenarbeit, etwa wenn die Autoren betonen, Organisationen müssten „more innovative, adaptable, and inspiring“ sein (109), schließlich gehe es darum, „to get to the future first“ (209).
Egal, welches der Ziele man sich vornimmt – ob Bürokratie der richtige Gegner ist, muss man hinterfragen. Nicht einzelne Organisationsstrukturen machen das Leben in einer Organisation erträglicher oder mühsamer , sondern das Zusammenspiel dieser Strukturen in den konkreten Kontexten, in denen sie stehen. Bestünde das einzige Problem einer Organisation darin, als erste in die Zukunft zu gelangen, wäre Humanocracy ein guter Wegweiser. Es dürfte aber nur schwer eine Organisation zu finden sein, die es sich leisten kann, das zu ihrem einzig relevanten Ziel zu machen. Wo aber auch andere Ziele verfolgt werden (müssen) und dabei zusätzliche Aspekte berücksichtigt werden müssen, sollte man genauer hinschauen und die abstrakten Humanocracy-Prinzipien in konkrete Strukturen überführen.
Wie löst man die Widersprüche zwischen den Prinzipien?
Bleibt man auf der Ebene von Prinzipien, erscheint vieles plausibel und noch mehr möglich. Die Humanocracy-Prinzipien sind recht allgemein formuliert. Sie gleichen damit eher Werten, denen man kaum widersprechen kann. Gerade weil sie recht allgemein formuliert sind, bleibt der Blick auf die zwischen den Prinzipien bestehenden Widersprüche eher verstellt. Manche Prinzipien der Humanocracy begünstigen eher die Ausbildung und Verfolgung von Partikularinteressen (etwa Ownership, Markt oder Meritokratie); andere Prinzipien rücken eher die Organisationsinteressen ins Zentrum (vor allem Gemeinschaft oder Offenheit). Diese beiden strukturellen Zugkräfte sind aber nur schwer miteinander zu vereinbaren. Gemeinsinn und Offenheit werden dort an Grenzen stoßen, wo man Wettbewerbsnachteile fürchtet oder die eigene Leistung nicht hinreichend gewürdigt findet.
Mit diesen Widersprüchen ist man spätestens dann konfrontiert, wenn es darum geht, konkrete Organisationsstrukturen für konkrete Organisationen zu entwickeln. Jedenfalls kann man allen Befürworter:innen der Humanocracy nur raten, sich für solche Widersprüche zu sensibilisieren und nach ihnen Ausschau zu halten. Man kann sich an humanokratischen Prinzipien orientieren und trotzdem dysfunktionale Organisationsstrukturen entwickeln – und das hilft weder der Organisation noch ihren Mitgliedern.
Personal als besonders relevante Entscheidungsprämisse
Verständlicherweise muss das Buch viele Fragen nach der konkreten Gestaltung von Organisationsstrukturen offenlassen. Eines ist jedoch unverkennbar: Humanocracy zielt darauf ab, der Entscheidungsprämisse Personal besondere Relevanz zu verleihen.13 Hamel und Zanini sehen in der Festschreibung von Kommunikationswegen und (Konditional-)Programmen die Begründung für das aus ihrer Sicht zentrale Problem von Organisation: Bürokratie. Dem stellen die Autoren die Vision einer Organisation gegenüber, die vor allem von ihrem Personal getragen wird. Zwar gibt es Organisationen, die maßgeblich über ihr Personal strukturiert sind – etwa Universitäten, in Teilen auch Krankenhäuser. In diesen Fällen finden die Mitglieder aber andere Abstützungskontexte wie Professionsnomen, die Orientierung stiften.
Wo solche organisationsexternen Orientierungsrahmen fehlen, wird man sehr genau prüfen müssen, was man dem eigenen Personal zumuten kann und möchte. Sicher – ein Höchstmaß an Autonomie und Verantwortung mag manchen Mitarbeiter:innen anmuten wie das arbeitsweltliche Paradies und sie in besonderer Weise motivieren. Für alle gilt dies aber sicher nicht. Und auch wenn es gewiss nicht ungewöhnlich ist, dass Organisationen ihre Mitglieder überfordern: Wo diese Mitglieder zugleich die tragenden strukturellen Säulen der Organisation sind, wächst die Gefahr, dass individuelle Überforderung sehr schnell in Organisationsprobleme umschlägt.
Der Weg vom Abstrakten ins Konkrete bleibt lang
Humanocracy stellt den Menschen in den Mittelpunkt und macht ihn zum dominanten Strukturprinzip der Organisation. Als Gedankenexperiment und als Erweiterung des Denkraums ist das sicher wertvoll – auch für die Gestaltung von Organisationen. Gerade weil die vorliegende Skizze der Humanocracy aber eine recht hohe Flughöhe hat, muss man bei der Entwicklung konkreter Organisationsstrukturen genau organisieren – mit Blick auf die konkreten Notwendigkeiten der konkreten Organisation.
Am Ende mag es sich als ‚humaner‘ (also menschenfreundlicher) erweisen, humanokratische Ideen sparsam anzuwenden.