Dieser Artikel ist Teil einer Reihe, die das Management-Sachbuch Humanocracy diskutiert. Den Kern von Humanocracy bilden sieben Prinzipien, die Orientierung geben sollen, wenn man Organisationen gestalten oder in ihnen handeln muss. Dieser Artikel befasst sich mit dem dritten Prinzip: Das Prinzip der Meritokratie.
Auch in der Reihe erschienen:
- Wieso Humanocracy ein Buch ist, mit dem man sich auseinandersetzen sollte
- Das Prinzip der Ownership
- Das Prinzip des Marktes
- Das Prinzip der Gemeinschaft
- Das Prinzip der Offenheit
- Das Prinzip des Experimentierens
- Das Prinzip der Paradoxie
- Fazit: Ist Bürokratie der richtige Gegner?
Der Kerngedanke
Eines der Hauptprobleme der Bürokratie sehen Hamel und Zanini darin, dass hierarchischer Rang und Status über den Umfang individueller Entschädigungen bzw. Belohnungen entscheiden, nicht die erbrachte Leistung. Mit dem Prinzip der Meritokratie soll sichergestellt werden, dass gilt: Leistung lohnt sich! Den Hauptansatzpunkt für die Ersetzung der bürokratischen Statusorientierung durch meritokratische Leistungsorientierung sehen die Autoren darin, Beurteilungsbias aufzulösen. Zu häufig seien Leistungsbewertungen aufgrund individueller Beurteilungsstile, des ‚In-Group-Bias‘ oder des Halo-Effekts verzerrt, [1] sodass sich Leistungen schlecht vergleichen ließen.
Anstatt die Leistungsbeurteilung einzelnen Führungskräften zu überlassen, sollten Bewertungen daher auf eine breitere Basis gestützt werden. Je mehr Datenpunkte zur Verfügung stehen, desto verlässlicher die Leistungsbeurteilung – so die Annahme. Als Beispiel nennen die Autoren den Hedgefond Bridgewater Associates. Dort komme ein ausgeklügeltes System wechselseitiger Bewertung zum Einsatz, bei dem jeder Kontakt mit eine:r Kolleg:in mittels einer App zugleich bewertet werden kann.
Unsere Überlegungen
Viele Organisationen beschäftigt die Frage, wie man individuelle Leistungsunterschiede in einem Vergütungssystem abbilden und Extra-Engagement belohnen kann. Die Frage ist also von einiger Relevanz. Jedoch – so sehr man das Anliegen auch unterstützen mag: Es bleibt Grund zur Skepsis. Meritokratie ist eher zustimmungspflichtiger Wert als umsetzbare Idee – auch außerhalb von Organisationen. [2] Dass Bewertungen – zumal, wenn sie transparent gemacht werden – durchaus disziplinierende Effekte haben können, bestätigt die soziologische Forschung. [3]
Man darf jedoch bezweifeln, dass Bewertungen Leistungen adäquat widerspiegeln. Zum einen bleibt das Grundproblem erhalten, dass Bewertungen subjektiv gefärbt sind und Bias unterliegen. Wo Interaktionspartner regelmäßig Kontakt miteinander haben, reflektieren Einzelbewertungen weniger die jeweilige Einzelsituation, sondern eher die Beziehungsqualität als Ganzes. Und wo es zu einer Einmalbegegnung kommt, geht ihre Beurteilung in der Fülle der Datenpunkte praktisch unter. Zum anderen fördern Verhältnisse der Dauerbewertung gerade jenen Konformismus, den Vertreter der Humanocracy überwinden wollen. Innovative Ideen, das Denken ‚Outside the Box‘ oder ‚gegen den Strich‘ mag für die Organisation ein Gewinn sein – man darf aber bezweifeln, dass das auch von Kolleg:innen und Vorgesetzten so gesehen wird, wenn die gute Idee des einen nur unterstreicht, wie schlecht die Ideen der anderen sind.
Ein System des Social Scoring und der wechselseitigen Leistungsbewertung stellt insofern eher ein weiteres Tauschgut im mikropolitischen Spiel um die Optimierung individueller Karrierechancen dar – und wirkt zudem selbst eigentümlich bürokratisch.
Wie es gehen könnte
Der Versuch, Leistungen objektiv zu messen oder zu bewerten, ist eine Falle. Hat man sich einmal diesem Ziel verschrieben, entstehen in der Folge immer neue Fantasien, wie sich Objektivität und Vergleichbarkeit herstellen lassen, wenn man erst ausreichend viele und genügend differenzierte Daten hat. Dann werden ausgeklügelte Kompetenzmodelle kreiert, mehrdimensionale Bewertungsskalen erdacht und regelmäßige 360-Grad-Feedbacks durchgeführt – kurz: die Bürokratie schlägt zurück. Auch wenn diese Instrumente keine Vergleichbarkeit herstellen, so rechtfertigen sie doch Vergleiche (und Ungleichbehandlungen) und erfüllen damit eine wichtige Funktion.
Wahrscheinlich kommt es gar nicht darauf an, objektive Vergleichbarkeit herzustellen. Entscheidender dürfte sein, dass Leistungsbewertungen plausibel sind. Dabei hilft es, wenn Organisationsstrukturen so gestaltet sind, dass Leistungen überhaupt beobachtbar werden. Die Beobachtung von Leistungen findet aber dort ihre Grenzen, wo Mehrwert gerade aus dem Zusammenspiel mehrerer entsteht und die individuellen Einzelbeiträge übersteigt.
In den meisten Organisationen dürften solche Konstellationen eher die Regel als die Ausnahme sein – und das lässt sich nicht durch die bloße Steigerung der Bewertungsanlässe auflösen. Mit anderen Worten: Objektive Vergleichbarkeit ist unerreichbar. Allerdings: Auch subjektive Leistungsbewertungen erfüllen eine Funktion! Mindestens sind sie ein Führungsmittel für Vorgesetzte. Das mag nicht zur Idee der Meritokratie passen – es passt aber gut zur Realität von Organisationen.
Literatur
[1] Individuelle Bewertungsstile beziehen sich auf den Umstand, dass manche grundsätzlich eher milde, andere streng bewerten. Der In-Group-Bias bezeichnet das Phänomen, dass wir die Welt in ‚wir-gegen-die-anderen‘-Dichotomien aufteilen – und die anderen regelmäßig schlechter bewerten. Und der Halo-Effekt verweist darauf, dass wir erste Eindrücke in der Bewertung übergewichten.
[2] Itschert, Adrian (2013): Jenseits des Leistungsprinzips. Soziale Ungleichheit in der funktional differenzierten Gesellschaft. Bielefeld: transcript.
[3] Siehe Sauder, Michael / Espeland, Wendy N. (2009): The Discipline of rankings. Tight Coupling and Organizational Change. American Sociological Review 74, 63–82. Vergleiche auch Foucault, Michel (2016): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Espeland/Sauder zeigen aber auch, dass mit Gaming-Effekten zu rechnen ist, wo Leistungsindikatoren dem Leistungsverhalten nicht gut entsprechen. Siehe hierzu Espeland, Wendy N. / Sauder, Michael (2007): Rankings and Reactivity. How Public Measures Recreate Social Worlds. American Journal of Sociology 113, 1–40.