Dieser Artikel ist Teil einer Reihe, die das Management-Sachbuch Humanocracy diskutiert. Den Kern von Humanocracy bilden sieben Prinzipien, die Orientierung geben sollen, wenn man Organisationen gestalten oder in ihnen handeln muss. Dieser Artikel befasst sich mit dem siebten Prinzip: Dem Prinzip der Paradoxie.
Auch in der Reihe erschienen:
- Wieso Humanocracy ein Buch ist, mit dem man sich auseinandersetzen sollte
- Das Prinzip der Ownership
- Das Prinzip des Marktes
- Das Prinzip der Meritokratie
- Das Prinzip der Gemeinschaft
- Das Prinzip der Offenheit
- Das Prinzip des Experimentierens
- Fazit: Ist Bürokratie der richtige Gegner?
Der Kerngedanke
Das Prinzip der Paradoxie zielt auf einen klugen Umgang mit (unvermeidbaren) Paradoxien ab. Hamel und Zamini gehen von der Annahme aus, dass Organisationen ständig mit Trade-Offs konfrontiert sind. Da sich nur eine begrenzte Zahl von Zielen gleichzeitig verfolgen lässt, ergibt sich die Notwendigkeit, sich zwischen gleichermaßen attraktiven Zielen zu entscheiden. Beispiele für solche Trade-Off-Entscheidungssituationen sind etwa Abwägungen zwischen Kontrollbedürfnissen und Freiheitsnotwendigkeiten, zwischen Wachstum und Profitabilität, zwischen langfristigen und kurzfristigen Gewinnen oder zwischen Kreativität und Disziplin. Auch der im Zusammenhang mit dem Prinzip des Experimentierens diskutierte Fall des Abwägens zwischen Exploitation und Exploration ist ein Paradebeispiel für Trade-Offs.
Solche widersprüchlichen Anforderungen lassen sich per se nicht auflösen. Nach Hamel/Zanini geht es Humanocracy vor allem darum, den Umgang mit Trade-Offs näher an konkrete Entscheidungssituationen heranzuführen. Statt der Organisation Regeln zu geben, die die jeweilige Primärorientierung festschreiben sollen (Innovationsorientierung statt bürokratietypischer Ausführungsorientierung; risikoaffine statt vorsichtiger Grundhaltung usw.), komme es darauf an, jeweils situativ angemessene Entscheidungen zu treffen, ohne sich damit gleichzeitig für eine Vielzahl anderer Entscheidungssituationen festzulegen. Der Dreiklang, für den Hamel/Zanini werben, lautet: Trade-offs erkennen (sich also ehrlich machen in Bezug auf die Existenz von Dilemmata); Entscheidungen über Trade-Offs lokalisieren (sie also konkreten Situationen und den beteiligten Mitarbeiter:innen zuweisen); Trade-Offs depolarisieren (also ein ‚sowohl als auch‘-Denken befördern).
Unsere Überlegungen
Der Umgang mit Spannungen, Dilemmata und Zielkonflikten ist ein Dauerproblem von Organisation – in gewisser Weise sogar ein definierendes Charakteristikum: Findet man weder Spannungen noch Zielkonflikte, hat man es nicht mit einer Organisation zu tun. Dilemmata in konkrete Entscheidungssituationen zu verlagern, statt sie global für die gesamte Organisation vorzuentscheiden, erhöht fraglos die situative Flexibilität einer Organisation. Man reichert damit aber zugleich eine Vielzahl von Entscheidungssituationen mit Komplexität an.
Beispielhaft hierfür steht der Vorschlag von Hamel/Zanini, für Organisationseinheiten und „frontline teams“ keine KPIs als Leistungsindikatoren zu verwenden, sondern ihnen P&L-Verantwortung zu übertragen. Anstatt mit KPIs relativ einfache Proxys an die Hand zu bekommen, an denen sich eigene Entscheidungen orientieren können, wird die gesamte Komplexität und Vielschichtigkeit des P&L-Problems „lokalisiert“ – und damit innerhalb der Organisation vervielfacht. Die potenziellen Flexibilitätsgewinne müsste man dann mindestens gegen die Komplexitätskosten aufrechnen. Der Appell, Trade-Offs zu depolarisieren, wirkt dann beinahe ignorant – zeigen die Autoren doch selbst, dass es gerade ein Charakteristikum von Trade-Offs ist, sie nicht in ein ‚sowohl als auch‘ auflösen zu können – jedenfalls nicht in einer jeweils konkreten Entscheidungssituation.
Wie es gehen könnte
Man sollte behutsam differenzieren, worauf es im Umgang mit Trade-Offs ankommen wird: An welchen Stellen und zu welchen Themen braucht es situative Flexibilität und Kontextsensitivität? Wo fährt man aber möglicherweise auf lange Sicht doch besser, wenn man auf einen stärker standardisierten Umgang mit Trade-Offs setzt? Bei der Entscheidung werden dann Fragen relevant, die helfen herauszuarbeiten, wie viel in der jeweiligen Entscheidungssituation auf dem Spiel steht, wie häufig diese Entscheidungssituationen auftreten und wie sehr sie sich von Mal zu Mal unterscheiden.
Ein solches Vorgehen ermöglicht Effizienzgewinne durch Standardisierung und vermeidet es gleichzeitig, das Personal durch überbordende Komplexität zu überfordern – was selbst wieder inhuman wäre. Letztlich wiederholt sich das Grundproblem damit aber auf einer übergeordneten Ebene erneut: Nach welchen konkreten Maßstäben möchte man unterscheiden, in welchen Situationen Trade-Offs lokal oder zentral entschieden werden? Welche Spannungen möchte man also strukturell vorentscheiden und welche in der Organisation – produktiv – verankern? Dies herauszuarbeiten ist die Aufgabe sorgfältiger Organisationsgestaltung.